Mit „Der Babadook“ und „Before I Wake“ gab es zuletzt gleich zwei Filme mit seltsamen Monstren und einer schwierigen Mutter-Kind-Beziehung. Auch in dem Fantasy-Drama „Sieben Minuten nach Mitternacht“ von J.A. Bayona („Das Waisenhaus“) finden sich diese Elemente, aber es handelt sich bei der Verfilmung des Young-Adult-Bestsellers „A Monster Calls“ von Patrick Ness keineswegs um Trittbrettfahrerei – ganz im Gegenteil. Vielmehr richtet sich der bildgewaltige und sehr emotionale Film ebenso wie die Vorlage ganz explizit (auch) an Jugendliche. Der blanke Schrecken von „Babadook“ und Co. wird in diesem aus der Sicht eines 12-jährigen Protagonisten erzählten Krebsdrama durch einen deutlichen Fantasy-Einschlag und märchenhafte Töne abgefedert, die düsteren Themen werden dabei einfühlsam aufgearbeitet.
Der 12-jährige Conor O'Malley (Lewis MacDougall) hat es nicht leicht: Seine Mutter Elizabeth (Felicity Jones) ist schwer krank, der Vater (Toby Kebbell) lebt mit neuer Frau und Tochter in den fernen USA, und im museal angehauchten Haus der Großmutter (Sigourney Weaver) mit den unzähligen Porzellanfiguren, die niemand anrühren darf, will er sich nicht länger als unbedingt nötig aufhalten. Außerdem wird er in der Schule gemobbt und von wiederkehrenden Visionen gepeinigt, in denen der drohende Tod der Mutter in einem Zusammenhang mit einem riesigen Monster (Stimme im Original: Liam Neeson) zu stehen scheint, das wirkt, als hätte die knorrige uralte Eibe neben dem nahen Friedhof sich einfach mal eben losgerissen - um die Gegend zu verwüsten und Conor den Unterschied zwischen Märchen und Realität schonungslos nahezubringen …
Wie Steven Spielberg in „BFG - Big Friendly Giant“, P.J. Hogan in „Peter Pan“ oder Tim Burton in „Alice im Wunderland“ spielt auch J.A. Bayona gerne mit den unklaren Grenzen zwischen Traum und Realität. Wenn Conor jeweils erstaunlich pünktlich um „Sieben Minuten nach Mitternacht“ vom oft aufbrausenden, aber letztlich auch weisen Baummonster aufgeweckt wird (oder die Begegnungen doch nur träumt?), sucht man als Zuschauer nach konkreten Hinweisen auf den Wirklichkeitsgehalt - und davon gibt es eine Menge. So erhascht man zweimal zwischen alten Familienfotos ein Porträt von Liam Neeson („96 Hours“, „Schindlers Liste“) mit einem quietschvergnügten kleinen Mädchen, bei dem es sich offenbar um die junge Elizabeth handelt. Nie wird aufgeklärt, ob der ältere Herr Conors Großvater war oder ob der Enkel je dessen Stimme vernahm. Doch dies macht auch keinen großen Unterschied, denn es gelingt etwas viel Wichtigeres: Auf der Leinwand wird eine Welt erschaffen, deren übernatürlichem Zauber man sich nicht entziehen kann. Man fühlt sich an die spezielle Magie jener Spielberg-Filme aus den 1980ern erinnert, denen auch schon J.J. Abrams mit seinem „Super 8“ nacheiferte.
Kindliche Urängste (der knorrige Ast am Fenster in „Poltergeist“) und die Sehnsucht nach einem imaginären Freund („E.T. - der Außerirdische“) werden in „Sieben Minuten nach Mitternacht“ zu einem untrennbar verbundenen Gegensatzpaar und damit zu einem erzählerischen Fundament mit der unerschütterlichen Stabilität eines sturmerprobten Urgewächses. Mit ebenso opulenten wie stimmungsvollen Bildern (unter Verwendung von unaufdringlichen, aber hochmodernen Effekten) nicht nur vom Baumwesen gibt Bayona den unterschwelligen Gefühlen sinnlichen Ausdruck. Ähnliches gilt auch für die aufwändig animierten märchenähnlichen Geschichten von bösen Stiefmüttern, todkranken Schwestern oder einem verbotenen Heilmittel, die das „Monster“ dem Knaben erzählt. Als eigentliches Zentrum des Films erweist sich nach und nach jedoch die über fast schon zu schöne Aquarellbilder, die dem Film eine ganz besonders persönliche Note verleihen, geschaffene Verbindung zwischen Mutter und Kind.
„Sieben Minuten nach Mitternacht“ ist trotz vieler genretypischer Wendungen und Motive von einer erstaunlichen Wahrhaftigkeit beseelt, die damit zusammenhängen mag, dass Patrick Ness, der Verfasser der Romanvorlage und des Drehbuchs, eine Geschichte der Kinderbuchautorin Siobhan Dowd weitergeschrieben hat, die diese nicht beenden konnte, weil sie selbst einem Krebsleiden erlag. Es liegt eine stille Traurigkeit über dem Film, ein Gefühl von unerklärlichem Verlust stellt sich auch ein, wenn man mitansehen muss, wie die junge und schöne Felicity Jones („Rogue One: A Star Wars Story“) als Elizabeth immer stärker körperlich verfällt. Ihre Leistung und vor allem die beeindruckende Darbietung von Conor-Darsteller Lewis MacDougall, der nahezu in jeder Szene des Films präsent ist, runden das stimmige Gesamtbild ab, das auch durch kleinere inszenatorische Missgriffe (wie bei der Reizüberflutung durch eine zum Showdown stilisierte Schocktherapie) nicht nachhaltig getrübt wird. Und wer sich doch etwas von der metaphernlastigen Erzählweise gestört fühlt, der wird durch die sehr schöne und durchaus unerwartete Schlussszene versöhnt.
Fazit: So wie im Film Mutter und Sohn gemeinsam „King Kong und die weiße Frau“ schauen, möchte man „Sieben Minuten nach Mitternacht“ als generationsübergreifendes Kinoerlebnis ab etwa 12 Jahren empfehlen, das mehr als bloße Unterhaltung und oberflächliche Emotionen bietet.