Wie schwer die Deutschen an ihrer Vergangenheit tragen, zeigt sich nirgends so deutlich wie in Literatur und Film. Wenn dort ein Blick zurückgeworfen wird, dann geht es nur sehr selten um Wirtschafts- oder Fußballwunder, sondern es kommt zumeist knüppeldicke: zwei Weltkriege samt Naziherrschaft, die Geschichte der DDR und der RAF-Terror wollen schließlich verarbeitet werden. Vieles davon spielt nun auch im neuen Kinofilm von Uwe Janson, der normalerweise im TV- und Comedybereich („Danni Lowinski“) zu Hause ist, eine entscheidende Rolle, insofern ist das fast 80 Jahre Handlungszeit umspannende Drama „Auf das Leben!“ durchaus typisch deutsch. Und es ist eine Familienangelegenheit: Produzentin Alice Brauner widmete den Film ihrer Mutter Maria, von deren Biografie das Schicksal der Protagonistin zum Teil inspiriert ist. Streckenweise wird diese Ruth auch noch von Marias Nichte Sharon Brauner gespielt – so viel familiäre Beteiligung bringt Herzblut in den Film.
Die etwa 80jährige Ruth Weintraub (Hannelore Elsner) hat ein wildbewegtes Leben hinter sich und muss wegen einer Zwangsversteigerung ihre Wohnung samt Musikalienwerkstatt verlassen. In Jonas (Max Riemelt), einem 29-jährigen Möbelpacker, erkennt sie die große Liebe ihres Lebens, Victor (ebenfalls Max Riemelt) wieder. Der junge Mann und die alte Dame verstehen sich auf Anhieb recht gut, was sie aber nicht davon abhält, sich in der Badewanne der neuen Wohnung die Pulsadern aufzuschneiden. Victor, der auch Medizinstudent und ehemaliger Rettungsfahrer ist, entdeckt sie zufällig und rettet ihr das Leben, was aber für Ruth vor allem bedeutet, dass sie nun in eine geschlossene Anstalt überwiesen wird, in die Obhut von Professor Werner (Andreas Schmidt). Als Jonas aufgrund einer Notlage in Ruths leerer Wohnung übernachtet und dort einen Dokumentarfilm findet, den Victor in den 1970ern über die jüdische Cabaret-Sängerin Ruth (in jungen Jahren dargestellt von Sharon Brauner) gedreht hat, entwickelt sich ein tieferes Verständnis zwischen dem Studenten und der Seniorin.
„Auf das Leben!“ ist die Übersetzung des hebräischen Trinkspruchs „L'Chaim“ und in einer weitverstrickten Geschichte mit Mord- und Selbstmordversuchen ist der Titel natürlich Programm. Ruth und Jonas, die sich in unterschiedlichen Zeiten auf der Flucht befinden (sie während des Holocaust, er in der Gegenwart) finden über eine manchmal gewagte Parallelmontage in den 1970ern im übertragenen Sinne zueinander. als die etwa 40jährige Ruth und Jonas' Doppelgänger Viktor für eine gewisse Zeit das große Glück teilen, das in den Dokumentaraufnahmen (die im Übrigen wie klassische Flashbacks daherkommen) eingefangen ist und durch Jonas am Projektor sozusagen „freigelassen“ wird. Dieser zeitliche Spiegelpunkt ist sehr wichtig für die Inszenierung, denn die transzendentale Annäherung von Ruth und Jonas ermöglicht den beiden eher depressiven Figuren, sich über ihre Probleme auszutauschen (nicht immer freiwillig) und so neue Hoffnung zu schöpfen.
Während Ruths traumatische Geschichte auch eine Zeitreise durch den deutschen Antisemitismus darstellt (für sie sind die 1970er überraschenderweise fast prägender als die Kriegszeit), flieht Jonas vor einer MS-Erkrankung, deren erbarmungslosen Ausgang er bereits bei seiner Mutter erleben musste. Er bricht das Studium ab, lässt seine Freundin Emily (Aylin Tezel) zurück und schlägt sich stattdessen in Berlin durch. Doch schon der erste Blickwechsel zwischen den beiden ungleichen Protagonisten wirkt dann wie eine Seelenwanderung, die Vermittlung zwischen den zwei Biografien in unterschiedlichen Zeiten und ihre Zusammenführung gelingt durch den Einschub von Filmvorführungen, Erinnerungen und Träumen, mit denen die Fäden der komplexen, auf mindestens drei Jahrzehnte verteilten Handlung immer wieder verbunden werden, aber auch durch die Musik (die über einen Comeback-Auftritt Ruths selbst zu einem durchgehenden Thema wird) und die überzeugenden, jederzeit glaubwürdigen Hauptdarsteller. So beeindruckt „Auf das Leben!“ trotz seiner gewagten und nicht unproblematischen Struktur durch eine erstaunliche erzählerische Geschlossenheit.
Fazit: Holocaust, Krankheit und Selbstmord kontra Musik, Liebe und Lebensmut – die ungewöhnlich aufgearbeiteten Themen von „Auf das Leben!“ bieten Anlass, mal nicht nur mit Gleichaltrigen, sondern mit Mutter, Opa oder Enkelin ins Kino zu gehen.