Bereits acht Mal hat Florian Baxmeyer („Die drei ??? – Das verfluchte Schloss“) bei einem „Tatort“ aus dem hohen Norden Regie geführt: Ein Mal beim „Tatort“ aus Kiel, ein Mal beim „Tatort“ aus Hamburg und zuletzt sechs Mal beim „Tatort“ aus Bremen. Der Hamburger Krimi fiel dabei am spannendsten aus: 2009 jagte Baxmeyer im „Tatort: Häuserkampf“ den von der Filmkritik gefeierten, vom Publikum aber mit schwachen Quoten abgestraften Undercover-Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) in einem packenden Wettlauf gegen die Zeit durch die Elbmetropole. Mit seinen Bremer „Tatort“-Folgen konnte der Filmemacher bisher nie an dieses hohe Niveau anknüpfen – was auch an den teils katastrophalen Drehbüchern lag, die ihren Tiefpunkt 2012 im unfreiwillig komischen Geiseldrama „Tatort: Hochzeitsnacht“ (Gastauftritt von Rapper Ferris MC inklusive) erreichten. Ganz anders fällt nun der adrenalinschwangere Bremer „Tatort: Brüder“ aus: Baxmeyers siebte Regiearbeit für die Weserstadt ist nicht nur seine mit Abstand beste, sondern ein herausragender Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimi-Reihe. Der Regisseur vergoldet das erstklassige Drehbuch von Grimme-Preisträger Wilfried Huismann und Dagmar Gabler zu einem hochspannenden und zutiefst beunruhigenden Thrillerdrama, in dem auch die zuletzt etwas müde wirkenden Bremer Hauptkommissare beweisen, dass sie noch nicht zum alten Eisen gehören.
Die Streifenpolizisten David Förster (Christoph Letkowski) und Anne Peters (Anna-Lena Doll) werden nachts von der Zentrale zum Ort eines Notrufs geschickt: Ein Mann fühlt sich bedroht. Vor Ort treffen Förster und Peters auf drei stadtbekannte Kriminelle: Der einflussreiche Hassan Nidal (Dar Salim) steigt in Begleitung seiner Brüder Ahmed (Kailas Mahadevan) und Mo (Hassan Akkouch) aus einem schwarzen Van, in dem sie den Anrufer – einen Kronzeugen in einem Gerichtsprozess – zuvor malträtiert haben. Die Situation eskaliert: Nidal wird handgreiflich und prügelt Peters fast zu Tode. Doch wie reagiert Förster? Als die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) am nächsten Morgen am Tatort eintreffen, ist ihr junger Kollege ebenso verschwunden wie die Leiche des Kronzeugen. Als Förster später verletzt und eingeschüchtert wieder auftaucht, wird klar, dass die Polizisten die Aktivitäten eines arabischen Clans gestört haben, der keinerlei Respekt vor den Bremer Ordnungshütern an den Tag legt...
Eine Hansestadt, eine kriminelle Vereinigung und ein actionerprobter Regisseur am Ruder: Man könnte fast meinen, der 901. „Tatort“ spiele in der Stadt von Nick Tschiller (Til Schweiger) und Yalcin Gümer (Fahri Yardim), die es im „Tatort: Kopfgeld“ im März 2014 zum zweiten Mal mit dem Hamburger Astan-Clan zu tun bekommen. Doch der Schauplatz ist Bremen – eine Stadt also, in der bereits seit 1997 eine der entspanntesten Ermittlerinnen der Krimireihe die Mörder hinter Gitter bringt: Hauptkommissarin Inga Lürsen fährt normalerweise nur bei den oft störenden Streitgesprächen mit ihrer Tochter und Vorgesetzten Helen (Camilla Renschke) aus der Haut, die diesmal ebenso ausbleiben wie private Störfeuer. Für Trauer um den im „Tatort: Er wird töten“ ermordeten Lürsen-Lover Leo (Antoine Monot Jr.) bleibt auch keine Zeit: Ein Bild auf dem Schreibtisch, das Kameramann Marcus Kanter wie zufällig einfängt – das war’s. Lürsen schüttelt Goethe-Zitate („Wer sich allzu grün macht, den fressen die Ziegen.“) aus dem Handgelenk und ist der willkommene Ruhepol in diesem emotional aufgeladenen und extrem authentischen Thriller, in dem Kriminelle mit Kraftausdrücken nur so um sich werfen und das Polizeipräsidium mit Handgreiflichkeiten und wüsten Beleidigungen auf Trab bringen. Dieses kaum zu ertragende Extremszenario macht wütend und hilflos zugleich, weil der Zuschauer von Beginn an um den Hergang der Schreckenstat weiß und die höchst aggressiv und provokant auftretenden Clan-Mitglieder am liebsten einfach wegsperren würde.
Doch so einfach ist das natürlich nicht: Der dreifache Grimme-Preisträger Wilfried Huismann, der das Drehbuch gemeinsam mit Dagmar Gabler schrieb, bringt die Ohnmacht des deutschen Rechtsstaats präzise und schonungslos auf den Punkt und entspinnt im beschaulichen Bremen ein atemberaubendes, zutiefst beklemmendes Großstadtszenario, das den im „Tatort“ viel zu oft weichgespülten Polizeialltag mit erschütternder Dramatik unterfüttert. Am deutlichsten zeigt sich dies am Schicksal von Streifenpolizist Förster (stark: Christoph Letkowski, „Feuchtgebiete“), der von seinen Kollegen schon bald wie ein Aussätziger behandelt wird: Mit einer geladenen Maschinenpistole in der Hand steht Förster dem glatzköpfigen Hassan (überragend: der dänische „Game Of Thrones“-Darsteller Dar Salim) nach dessen brutaler Gräueltat gegenüber und zeigt trotz Waffe, Uniform und Ausbildung nur die menschlichste aller Reaktionen: nackte Angst ums Überleben. Nach dem müden Odenthal-Schongang im Vorgänger-„Tatort: Zirkuskind“ gibt es diesmal einen „Tatort“ im knallharten, aber nicht zu actionlastigen Schleudergang: Augenzeugen werden im Gerichtssaal von Angeklagten und Angehörigen eingeschüchtert, der jüngste Nidal-Sprössling spuckt Lürsen respektlos ins Gesicht und selbst Richter Kentrup (Guntbert Warns) darf sich beim Saunagang nach Feierabend nicht mehr sicher fühlen, weil Nidal seine Schergen vorbeischickt.
Die Filmemacher konzentrieren sich voll auf den fesselnden, hochspannenden Kriminalfall, gönnen dem Publikum kaum eine Verschnaufpause und scheuen sich auch nicht vor radikalen Äußerungen: „Wenn ihre Söhne hier auf alles scheißen, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn man hier auch auf sie scheißt“, knallt Lürsen dem ahnungslosen Familienvater Nidal an den Kopf. Die Drehbuchautoren Huismann und Gabler zeichnen in „Tatort: Brüder“ aber trotz des Fokus auf die kriminelle Bande ein differenziertes Bild, kommen dabei ohne billige Schwarz-Weiß-Zeichnung oder müde Klischees, wie sie zuletzt im Leipziger „Tatort: Türkischer Honig“ gleich reihenweise bedient wurden, aus: Mit Försters arabisch-stämmigem Blutsbruder aus Jugendtagen „Sunny“ (Matthias Weidenhöfer), der im doppelbödig angelegten Schlussdrittel des Krimis eine Schlüsselrolle einnimmt, gibt es auch den integrationswilligen Gegenentwurf zum Rest der mafiaähnlichen Sippe, die mit ihren Drogengeldern und Drohkulissen ganz Bremen zu kontrollieren scheint. Das ist bis zur bemerkenswert konsequenten Schlusspointe extrem beunruhigend und dabei ungemein unterhaltsam – so spannend war der Bremer „Tatort“ mit Lürsen und Stederfreund noch nie.
Fazit: „Brüder“ ist der bislang spannendste Bremer „Tatort“ überhaupt und das erste große Krimi-Highlight des Jahres 2014.