„Das Märchen der Märchen“ von Matteo Garrone mutet an wie eine Mischung aus Tausendundeiner Nacht, den Filmen von Pier Paolo Pasolini und den Märchen der Gebrüder Grimm. Nach dem brillanten Mafia-Doku-Drama „Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra“ und der durchwachsenen Mediensatire „Reality“ nimmt sich der nach 2008 und 2012 zum dritten Mal in den Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes eingeladene Regisseur Matteo Garrone darin eines Klassikers der italienischen Literatur an, nämlich der Märchensammlung „Das Pentameron“ von Giambattista Basile. Welche besondere Relevanz diese Geschichten aus dem frühen 17. Jahrhundert für die Gegenwart haben, bleibt hier zwar eher unklar, dennoch überzeugen die mal merkwürdigen, mal berührenden Episoden durch ihre phantasievolle Umsetzung und ihre spannende, nicht auf den ersten Blick zu entschleiernde und oftmals zeitlose Moral.
Am Hof eines Königs (John C. Reilly) können sich die Gaukler und Akrobaten noch so sehr ins Zeug legen: Die Königin (Selma Hayek) ist einfach nicht amüsiert, denn alles was sie will, ist ein Baby. Doch um das zu bekommen, müsste ihr Gemahl zunächst ein Seeungeheuer erlegen und dessen Herz anschließend von einer Jungfrau kochen lassen. Ein anderer König (Toby Jones) interessiert sich mehr für seine Insektensammlung als für den Heiratswunsch seiner Tochter Fenizia (Jessie Cave). Mit einem Quiz soll ein Gemahl gefunden werden, doch statt eines schmucken Prinzen beantwortet ein hässlicher Oger die eigentlich unmöglich zu lösende Frage. Ein weiterer König (Vincent Cassel) verbringt seine Zeit am liebsten mit schönen Frauen. Er hat sich in eine liebreizende Stimme verliebt, doch die gehört der hässlichen Dora (Hayley Carmichael). Im Dunkeln gibt sie sich dem König hin, dessen Neugier ihm jedoch keine Ruhe lässt: Als er sie bei Licht erblickt, wird sie kurzerhand aus dem Schlossfenster geschmissen – mit unerwarteten Folgen…
Nicht zufällig muss man bei Garrones Film oft an Pier Paolo Pasolini und dessen Verfilmung der Novellensammlung „Das Dekameron“ von Giovanni Boccaccio denken. Schließlich haben beide Adaptionen nicht nur die aus diversen Erzählungen bestehende Form gemein, sondern auch ihre visuelle Opulenz: Garrone schwelgt immer wieder in barock-lüsternen Bildern, die manches Mal einen ähnlich amateurhaft-kruden Charme haben wie einige der Historienfilme Pasolinis. Von der Perfektion eines klinisch-glatten Hollywood-Märchenfilms (wie etwa zuletzt „Cinderella“) ist das ewig weit entfernt, aber das passt auch zum Inhalt: Hier gibt es keine immer gleichen Geschichten vom Sieg des Guten über das Böse, stattdessen dominiert bei Garrone die Ambivalenz.
Verbindendes Element der einzelnen Episoden ist die Dualität von Leben und Tod, von Geburt und Sterben, auch von Schönem und Hässlichem. Garrone erzählt davon, dass Handeln stets Konsequenzen hat, oft auch unvorhergesehene, dass jeder Wunsch seinen Preis hat, dass das Schicksal unausweichlich ist. Das geschieht phasenweise derart verquer, dass der Zuschauer nach einzelnen Szenen immer wieder ratlos zurückbleibt. Trotzdem steckt „Das Märchen der Märchen“ aber so voll mit Anspielungen und Denkansätzen, dass das Geschehen noch überraschend lange nachwirkt.
Fazit: Bei seinen ersten beiden Teilnahmen im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes wurde Matteo Garrone jeweils mit dem Großen Preis der Jury bedacht. Für eine Auszeichnung dürfe es dieses Mal zwar nicht reichen, aber trotz manch holpriger Passage bietet sein wild-barocker Märchenfilm viel Phantasie und Originalität.