„Das Mädchen Hirut“ war der offizielle Beitrag Äthipiens in der Kategorie des Besten nicht-englischsprachigen Films bei der Oscar-Verleihung 2015. Die Entscheidung für das konventionell aufgebaute, aber mitreißend gespielte und feinfühlig inszenierte Justizdrama ist zu begrüßen: Zum einen packt der Nachwuchsfilmemacher Zeresenay Berhande Mehari in seinem Leinwanddbüt einen politisch kontroversen Teil der äthiopischen Rechtsgeschichte auf. Zum anderen hat sich mit Angelina Jolie als Ausführende Produzentin der Low-Budget-Produktion bereits ein Hollywood-Megastar für den Film stark gemacht, der mit seiner klaren Dramaturgie und Figurengestaltung ebenso gut aus der US-Filmindustrie hätte stammen können.
Äthiopien, 1996. Nahe der Hauptstadt Addis Abeba wird das 14-jährige Mädchen Hirut Assefa (Tizita Hagere) auf dem Heimweg von der Schule von einer Gruppe junger, bewaffneter Männer entführt und gefangen gehalten. Einer der Männer vergewaltigt sie noch in derselben Nacht. Als Hirut am nächsten Morgen samt Gewehr die Flucht gelingt, wird sie von der Gruppe verfolgt. Es gelingt ihr, ihren Peiniger zu erschießen und sich in Polizeigewahrsam zu bringen. Doch damit beginnt erst ihre Tortur: Auf die Ermordung eines Mannes durch eine Frau steht in Äthiopien die Todesstrafe. Zudem hat Hirut durch ihre Flucht gegen die alte Tradition der „Telefa“ verstoßen, wonach verliebte Männer Frauen ohne deren Willen entführen und heiraten dürfen. Die Anwältin und Frauenrechtlerin Meaza Ashenafi (Meron Getnet) schaltet sich in den Fall ein und nimmt es sogar mit dem Justizministerium auf, um die verängstigte Hirut vor dem sicheren Tod durch die erzkonservative Dorfgemeinde zu retten.
Zeresenay Berhande Meharis mitreißende Chronik des verbitterten, verzweifelten Kampfs der zwei Protagonistinnen – eine moderne, gebildete und unabhängig lebende Anwältin aus der Stadt und ein von patriarchalen Gesetzen eingeengtes Mädchen vom Lande – gegen das ungerechte System wirkt zunächst arg konstruiert. Doch es ist die Erzählung einer wahren Geschichte, auch wenn es im Zuge der Filmpremiere für Schlagzeilen sorgte, dass das reale Vorbild für Hirut nie ihre Zustimmung zum Film gegeben hat und selbst nur durch Zufall von dem Projekt erfuhr. Das brachte den Machern von „Das Mädchen Hirut“ zu Recht viel Kritik ein, ändert aber nichts daran, dass ihr Werk über weite Strecken als offene Kritik an den sozialen, geschlechterpolitischen und ökonomischen Missständen in Äthiopien sehr gut funktioniert. Meharis verständnisvolle, behutsame Darstellung aller handelnden Personen des Dramas wirkt dabei gleichzeitig einer Dämonisierung der traditionsgebundenen Landbevölkerung ebenso entgegen wie der übertriebenen Heroisierung der fortschrittlichen Gutmenschen in der Stadt.
Auch wenn die für ihr soziales Engagement ausgezeichnete Anwältin Meaza Ashenafi als eine heldenhafte, vorbildliche Lichtgestalt angelegt ist, setzt die energisch aufspielende Meron Getnet alles daran, ihre Rolle ohne jeden Glanz und Glamour als eigenwilligen Workaholic anzulegen. Ähnlich intensiv ist Tizita Hageres fast wortlose, vor allem von traurigen, emotional tiefschürfenden Blicken bestimmte Vorstellung als Hirut. Die übrige Besetzung ist ein stimmiger Mix aus Laiendarstellern und Profis. Vor allem in den Gerichtsszenen laufen die Schauspieler zur Höchstform auf, allen voran in dem erschreckend phallokratischen Treffen der Dorfältesten mit den Männern der Umgebung, bei dem abseits jeder offiziellen Rechtsinstitution über den Fall Hirut entschieden werden soll. Diese Szene ist in ihrer dokumentarischen Unnmittelbarkeit zugleich ein Stück absolut faszinierende Kulturanthropologie. Ästhetisch ist das Ganze entsprechend eher schmucklos, während sich in der Filmmusik analog zur Handlung zwischen Tradition und Moderne äthiopische Melodien und westliche Instrumente aneinander reiben.
Fazit: Etwas konstruiertes, aber ergreifend gespieltes und stimmungsvoll erzähltes Gerichtsdrama nach einer wahren Begebenheit: ein faszinierender Blick auf ein wichtiges Ereignis der jüngeren äthiopischen Geschichte.