Nach der Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen 2016 brach ein Sturm der Entrüstung los und der im Vorjahr aus der Taufe gehobene Hashtag #OscarsSoWhite erlebte eine ungewollte Renaissance: Wie schon 2015 befanden sich unter den 20 nominierten Schauspielerinnen und Schauspielern ausschließlich Weiße. Die dadurch losgestoßene Diskussion über den Rassismus in der Academy und in Hollywood allgemein ist notwendig (hier unsere Meinung dazu). Gleichzeitig beweisen die umstrittenen Einzelfälle nicht nominierter Leistungen für sich allein genommen wenig: Man muss schließlich kein Rassist sein, um die Meinung zu vertreten, dass etwa „Straight Outta Compton“ bei allen Qualitäten nicht zu den fünf (oder acht) besten Filmen des Jahres gehört oder dass eine Reihe anderer Kandidaten eben noch einen Tacken besser war als Michael B. Jordan in „Creed“ und Benicio Del Toro in „Sicario“. Auch Will Smith, der wie seine Frau Jada Pinkett Smith („Magic Mike XXL“) inzwischen angekündigt hat, der Oscar-Show fernzubleiben, gehörte für seine Rolle im Enthüllungsdrama „Erschütternde Wahrheit“ zum erweiterten Favoritenkreis und ging leer aus. Dabei ist sein subtiles Porträt eines idealistischen, aber keineswegs naiven Außenseiters das Beste an Peter Landesmans ansonsten oft überdeutlichem und trotzdem geradezu zahmem Film über die Gesundheitsgefahren bei Amerikas beliebtestem Sport.
Mike Webster (David Morse) hat als Center der Pittsburgh Steelers in den 70er und 80er Jahren vier Mal den Super Bowl gewonnen, doch nach der Karriere wird der einstige Superstar des American Football von Gedächtnislücken, Kopfschmerzen und Depressionen geplagt, bis er 2002 mit gerade einmal 50 Jahren an einem Herzinfarkt stirbt. Bei seiner Autopsie entdeckt der Pathologe Dr. Bennet Omalu (Will Smith), dass Webster unter einem vom Sport ausgelösten Hirntrauma gelitten hat. Weitere ungewöhnliche Todesfälle unter Ex-Footballern erhärten den Verdacht des Mediziners: Die Erschütterungen und Kräfte, die bei dem körperbetonten Spiel auf das Gehirn einwirken, können lebensgefährlich sein. Omalu veröffentlicht seine Ergebnisse, die bei den Verantwortlichen der Profiliga NFL gar nicht auf Begeisterung stoßen, in einem Fachmagazin, woraufhin die mächtige Sportorganisation massiven Druck auf ihn, seine Braut Prema (Gugu Mbatha-Raw) und seinen Vorgesetzten Dr. Cyril Wecht (Albert Brooks) ausübt. Nur Dr. Julian Bailes (Alec Baldwin), der Ex-Mannschaftsarzt der Steelers, kann sich der Wahrheit nicht verschließen …
Dr. Omalu hat als erster Chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE) bei Football-Spielern diagnostiziert, was nichts anderes heißt, als dass die üblichen Kollisionen während des Trainings und der Matches auf Dauer ein tödliches Trauma im Gehirn verursachen können. In „Erschütternde Wahrheit“ wird dieser nüchterne Befund anschaulich vermittelt: Mike Webster habe in seiner Karriere das Äquivalent von 70.000 Schlägen mit dem Vorschlaghammer einstecken müssen. So beschreibt es Will Smith als Omalu und wenn man dann noch sieht, wie der einst „Iron Mike“ genannte Musterprofi , gezeichnet von seinem Leid, vollends die Kontrolle über sein Leben und seinen Körper verliert (kaum wiederzuerkennen: David Morse), dann überlegt sich der Zuschauer womöglich schon, ob er seinen Kindern wirklich erlauben soll, Football zu spielen. Die nüchternen Bilder, die Regisseur Peter Landesman („Parkland“) für die anfallartigen Gewaltausbrüche der betroffenen Spieler findet, sprechen eine deutliche Sprache, während die Sportfunktionäre die Gefahren leugnen und verharmlosen. Aber vor dem polemischen Frontalangriff auf die NFL schreckt der Regisseur dennoch zurück und das hat einen einfachen Grund: Anders als etwa die Tabakindustrie ist der Football ein undankbares Ziel, denn er ist in den USA nicht nur ein Milliardengeschäft, sondern auch ein nationaler Mythos. Das Spiel wird geliebt, ihm „gehört“ gleichsam ein Wochentag, wie es einmal heißt.
Peter Landesman versucht sich an einem schwierigen Spagat: Er will die Missstände anprangern, ohne zu sehr an dem Mythos zu kratzen, was den unterkühlt inszenierten Film manchmal etwas schematisch wirken lässt: „Ich hasse sie, aber ich kann sie nicht leugnen“, das sind die Worte von Alec Baldwins Dr. Bailes zu Omalus Forschungsergebnissen. Der Pathologe aus Afrika wird von seinen Gegnern als Ignorant dargestellt, der ein nationales Heiligtum gefährdet (auch wenn er den Footballsport keineswegs verbieten will), und wenn Omalu seine amerikanische Wahlheimat dennoch als Paradies auf Erden verherrlicht, dann wirken die entsprechenden weihevollen Dialoge wie dramaturgische Winkelzüge, um ihm die Sympathien der Football-Patrioten doch noch zu sichern. So fehlt diesen Momenten ähnlich wie den beschwichtigenden Beschwörungen der Schönheit des Spiels die Emotion - und am anderen Ende des Spektrums wirkt selbst eine mustergültige Paranoia-Szene wie Premas Panik, als sie von einem unbekannten Auto verfolgt wird, seltsam spannungs- und leidenschaftslos: „Erschütternde Wahrheit“ ist anders als etwa Michael Manns Meisterwerk „The Insider“ eben kein Thriller, dafür ist auch die Dramaturgie zu holprig und das Feindbild zu schwammig.
Dank Will Smith ist Landesmans ansonsten ziemlich durchwachsener Film aber dennoch sehenswert, er ragt aus der ordentlichen Besetzung noch deutlich heraus. Schon mit seinen beiden oscarnominierten Rollen in „Ali“ und „Das Streben nach Glück“ hat Smith bewiesen, dass er realen Vorbildern gerecht werden kann, ohne in bloßes Imitieren zu verfallen - und so ist es auch hier, davon zeugt nicht nur sein vollkommen natürlich wirkender nigerianischer Akzent. Seine charismatische Darbietung ist eine mustergültige Kombination aus nuanciertem Spiel und unaufdringlichem Starappeal, gleich in der ersten Szene, in der Omalu als Gutachter vor Gericht auftritt, etabliert ihn Smith als ebenso ungewöhnlichen wie charmanten Wahrheitsfanatiker. Selbst wenn dieser umfassend gebildete Mann (er besitzt etwa sieben verschiedene Diplome, darunter eines in Musiktheorie) sinngemäß zugibt, dass ihn das Leben weniger interessiert als der Tod, oder wenn er bei den Autopsien mit den Verstorbenen spricht, erscheint er keineswegs als kauziger Sonderling. Er weiß, was er tut, hat feste Überzeugungen und verfolgt seine Ziele mit leisem Nachdruck. Und wenn Omalu sich völlig verblüfft wundert, dass Wissen und Wahrheit nicht bei allen so hoch im Kurs stehen wie bei ihm, dann bringt Smith gleichsam nebenbei die Essenz des Films auf den Punkt.
Fazit: Das etwas unausgegorene Drama über die Gefahren von Hirnschäden beim Profi-Football ist vor allem durch Will Smiths oscarreife Leistung sehenswert.