Viel wurde in den vergangenen Jahren über die Aktivistinnen von Pussy Riot geschrieben, doch was genau hinter den Aktionen der Gruppe steckte, blieb oft unklar. Der Schweizer Regisseur Milo Rau versucht in seiner Dokumentation „Die Moskauer Prozesse“ die Aktionen der Frauenpunkband in den gesellschaftlichen Kontext zu stellen, aus dem sie erwachsen sind. Um das Konfliktgemenge von Kunst, Politik und Religion im heutigen Russland nachzuzeichnen, hat sich Rau dabei zusammen mit russischen Künstlern und Intellektuellen eine besondere Form der Darstellung überlegt. Die Auseinandersetzung um die Frage, ob Künstler mit provokanten Werken die Gefühle orthodoxer Christen beleidigen und vielleicht sogar als Verbrecher gelten müssen, wird als Gerichtsverhandlung mit Rechtsexperten, Geschworenen, Anwälten und Richtern verschiedenster Weltanschauungen erörtert.
Vor laufenden Kameras wurde das kulturelle Gerichtsdrama vom 1. bis 3. März 2013 im Sacharow-Zentrum in Moskau aufgeführt, einem Hort kritischer Intelligenz. Um die in diesen Räumen im Jahre 2003 von Ultraorthodoxen zerstörte Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ ging es am ersten „Prozesstag“, der zweite hatte einen weiteren, von der russischen Justiz offenkundig nicht neutral untersuchten Kunst-Skandal zum Gegenstand. Den Höhepunkt aber bildete der dritte Tag, die Beschäftigung mit der Aktion von Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche am 21. Februar 2012. Zum 41 Sekunden dauernden ‚Gebet’, Russland möge von Putin erlöst werden, nimmt im Zeugenstand Jekaterina Samuzewitsch Stellung, das Mitglied des Pussy-Riot-Trios, das ‚nur’ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. An diesem dritten Tag wollen Einwanderungsbehörde und Rechtsnationalisten dem Kunst-Spektakel ein Ende machen.
„Die Moskauer Prozesse“ – der Titel spielt auf stalinistische Säuberungen an – sind ein Film- und Theaterprojekt. Nicht nur weil das Gerichtsschauspiel aufgezeichnet wird, sondern auch, weil es mit vielen Interviews ergänzt wird, in denen Positionen deutlicher werden. Ohne diese wären die verhandelten Zusammenhänge für Uneingeweihte kaum verständlich, denn das Bemühen, ein möglichst breites Meinungsspektrum abzubilden, sorgt für eine dichte Abfolge an Informationen. Manche Befragte wachsen dabei über ihre Aussagen im Zeugenstand hinaus, wie beispielsweise ein systemkritischer Priester und langjähriger Parlamentsabgeordneter. Sich für seine derbe Sexualmetaphorik vorbeugend entschuldigend, preist er Pussy Riot als „Pussy MeteoRIOT“, der in die ungesetzliche, dem Laizismus widersprechende „Kopulation“ von Putin-Staat und Popen-Kirche eingeschlagen sei.
Womit man irgendwann zur entscheidenden Frage kommt, wer denn am Ende Recht hat: die Künstler, die zwar niemanden beleidigen wollen, wie einer ihrer Vertreter, Alexander Schubarow, betont, aber zugleich Herrschaftsansprüche auch des Glaubens durchbrechen wollen? Oder die Befürworter eines Schutzes des Sakralen um jeden Preis, um - wie es einer der konservativen Intellektuellen formuliert - die Ausbreitung eines westlichen, dekadenten „Liberalfaschismus“ des freien Marktes zu verhindern? Am Ende fällen die Geschworenen schließlich ein symbolisches Urteil, doch bis dahin wird intelligent und temperamentvoll diskutiert, findet ein Dialog über Gräben hinweg statt und entstehen sogar flüchtige Allianzen gegen die Ignoranz des Staates und der Extremisten. Ob dieses Modell wohl auch hierzulande politische Debatten befördern könnte?
Fazit: Milo Raus „Die Moskauer Prozesse“ ist ein intelligentes Reality-Gerichtsdrama um Freiheit und Sakralität. Vom Schlusswort des Gerichts abgesehen, handelt es sich dabei um eine ausgewogene Auseinandersetzung, die viel über die Zustände im modernen Russland erzählt.