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    Tatort: Alle meine Jungs
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Tatort: Alle meine Jungs
    Von Lars-Christian Daniels

    Was verrät mehr über uns als unser Lebenslauf, unser Facebook-Profil oder das, was wir im Alltag gegenüber unseren Mitmenschen sonst so von uns preisgeben? Genau: Unser Müll. Man stelle sich vor, jemand würde heimlich unsere Mülltonne durchwühlen, sämtliche Abfälle auswerten und anhand der Fundstücke ein Persönlichkeitsprofil von uns erstellen – sicherlich keine Vorstellung, die uns nachts ruhig schlafen ließe. In Florian Baxmeyers „Tatort: Alle meine Jungs“, dem 30. Film aus der Krimi-Reihe mit Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel), wird genau diese Idee aufgegriffen: Lürsens Müll kommt als Druckmittel gegen die Ermittlerin zum Einsatz. Der Bremer „Tatort“ spielt im Milieu der Abfallwirtschaft und Bandenkriminalität – in einer Welt, in der sich das Verbrechen in orangefarbener Arbeitskluft mit Leuchtstreifen tarnt. Leider streifen Erol Yesilkaya, Boris Dennulat und Matthias Tuchmann mit ihrem mutigen Drehbuch den hochinteressanten Ansatz, Menschen mit ihren eigenen Abfälle zu erpressen, nur im Vorbeigehen: „Alle meine Jungs“ ist ein origineller, am Ende aber etwas unrund wirkender Mix aus ironisch angehauchtem Mafiathriller und bitterem Sozialdrama. Dass die ARD im Vorfeld der Erstausstrahlung einmal mehr ein filmbegleitendes Online-Spiel anbot, ist dabei zweitrangig: Der „Tatort“ funktioniert auch, wenn man vorher nicht im Netz mitermittelt hat.

    Ein Müllwagen rast nachts durch Bremen: Am Steuer sitzt der schwerverletzte Müllmann Maik Decker, der an einer Stichwunde im Bauch zu verbluten droht. Decker verliert den Überlebenskampf: Sein Wagen verunglückt, und am nächsten Morgen findet man ihn tot auf einem Grünstreifen. Die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) werden von Lürsens Tochter und Vorgesetzter Helen (Camilla Renschke) auf den Fall angesetzt. In dem Entsorgungsunternehmen, in dem der verstorbene Ex-Knacki nach der Haftentlassung eine Anstellung gefunden hatte, scheint sein Tod keinen der Kollegen zu überraschen – auch nicht den einsilbigen Pavel Symanek (Hendrik Arnst), den Stedefreund einst hinter Gitter brachte. Die meisten anderen Müllmänner haben ebenfalls eine Gefängnisstrafe verbüßt und wurden von Bewährungshelfer Uwe Frank (Roeland Wiesnekker), der eine bemerkenswerte Rehabilitierungsrate vorzuweisen hat und von allen nur „Papa“ genannt wird, in den Betrieb von Firmenchef Abel (Patrick von Blume) vermittelt. Liegt im sogenannten „Bremer Modell“, das die Angestellten mit ungewöhnlich vielen Sozialleistungen versorgt, der Schlüssel zum Mordmotiv? Die Ermittler stoßen auf mafiöse Strukturen, in die auch der abgetauchte Müllmann Sascha (Jacob Matschenz) und seine Schwester Yvonne (Genija Rykova), die ein Kind mit dem Toten hat, verwickelt zu sein scheinen...

    Die mutige Geschichte von Erol Yesilkaya, Boris Dennulat und Matthias Tuchmann hätte auch gut nach Wiesbaden gepasst: Die Krimis Felix Murot (Ulrich Tukur), der im surreal angehauchten „Tatort: Das Dorf“ sein eigenes Gehirn auf einem Tablett serviert bekam, sind schließlich bekannt dafür, die Grenzen der Erfolgsreihe auszutesten. Der Bremer „Tatort“ steht hingegen eher für hanseatische Bodenständigkeit – da ist die skurrile Parallelgesellschaft, in die das Autorentrio den Zuschauer entführt, gleich doppelt bemerkenswert. Fast alle Figuren in „Alle meine Jungs“ – von den Ermittlern abgesehen – sind spürbar überhöht, verkommen dabei aber nie zur Karikaturen: Die Müllmänner sind muskelbepackte, tätowierte und meist sprachlose Schläger, die alle in derselben Straße wohnen und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft auf ihre ganz eigene Weise angehen. Die personifizierte untere Mittelschicht gibt sich auffallend freizügig und würde am liebsten wieder im Sonnenstudio arbeiten. Der zwielichtige „Papa“ hingegen residiert in einem China-Restaurant – seinem Hauptquartier, in dem der Boney M-Klassiker „Daddy Cool“ und die Stones-Hymne „Sympathy For The Devil“ dudelt, während der Müllpate und Bewährungshelfer sich genüsslich seiner Peking-Ente widmet und unbehelligt mafiösen Geschäften nachgeht.

    Die Grenzen zwischen brodelnder Satire und klassischer Krimi-Unterhaltung verschwimmen hier bisweilen, doch gleitet der Film nie komplett ins Komödiantische ab. Der „Tatort: Alle meine Jungs“, den Regisseur Florian Baxmeyer direkt im Anschluss an seinen herausragenden Bremer „Tatort: Brüder“ drehte, ist in jeder Hinsicht anders inszeniert als der Vorgänger, erscheint in einem anderen Look und erklingt in einer anderen Tonalität – wozu auch die stimmungsvolle Filmmusik von Jakob Grunert einen großen Teil beiträgt. Während die Weserstadt in „Brüder“ von ihrer tristesten Seite gezeigt wurde und der Zuschauer ohne Vorwarnung in ein beängstigendes Großstadtszenario geworfen wurde, beginnt Baxmeyers Nachfolger deutlich gemächlicher, erstrahlt auffallend farbenfroh und liefert trotz der Müllberge zunächst vorwiegend freundliche Bilder. Doch spätestens, als einer der Müllmänner zwischen die Fronten gerät und von einer Müllpresse zerquetscht zu werden droht, tun sich knallharte Abgründe auf, die in einer brutalen Gewalteruption gipfeln. Ausgerechnet Lürsens Dienstwaffe, die ihr der aufmüpfige Müllmann Tarik (Patrick Abozen, zuletzt im Kölner „Tatort: Der Fall Reinhardt“ als Assistent Tobias Reisser zu sehen) stiehlt, kommt dabei eine perfide Schlüsselrolle zu.

    Der Kriminalfall ist zwar als klassische Whodunit-Konstruktion angelegt, die Auflösung der Täterfrage spielt aber nur eine untergeordnete Rolle. Während sich die Kommissare auf die Suche nach der „Nadel im Müllhaufen“ (Lürsen) machen, taucht das Publikum in eine überzeichnete Parallelwelt ein und wird mit deren ganz eigenen Spielregeln konfrontiert. Zu den stärksten Sequenzen des Films zählt eine knackige Parallelmontage im Mittelteil: Während Stedefreund sich in einer schäbigen Fabrikhalle mit einer Übermacht an maskierten Müllmännern prügelt, legt der „Papa“ bei einer Unterredung im Polizeipräsidium in Seelenruhe ein entlarvendes Fundstück nach dem nächsten auf den Tisch, dass er in den Abfällen von Lürsen und ihrer Tochter Helen gefunden hat. Leider lassen die Filmemacher den Erpressungsaspekt schnell wieder fallen und greifen ihn nur in der Schlusssequenz des Krimis noch einmal ironisch auf. Hier wäre deutlich mehr drin gewesen – nicht zuletzt, weil Roeland Wiesnekker („3096 Tage“) seine Rolle als knallharter, aber stets charmanter Müllmogul mit Leidenschaft für asiatische Küche mit Leben füllt und viele Szenen stiehlt. Die Skizzierung der Mechanismen des lukrativen Müllgeschäfts, in dem Abfälle wertvoller Brennstoff sind, gelingt dagegen trotz aller Knappheit: Erst auf der Zielgeraden, als eine Durchsuchungsaktion der Polizei die Weserstadt in napolitanische Verhältnisse stürzt und in stinkenden Abfallbergen versinken lässt, schießen die Filmemacher ein wenig über das Ziel hinaus.

    Fazit: Farbenfroh, hart und durchaus sympathisch – Florian Baxmeyer entführt den Zuschauer im kurzweiligen „Tatort: Alle meine Jungs“ in eine Welt aus Abfall, Angst und Abhängigkeit.

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