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    Tatort: Angezählt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Tatort: Angezählt
    Von Lars-Christian Daniels

    Feuchtfröhliche Karaoke-Parties, spontane Frauenabende mit der Tochter des neuen Kollegen und heimliche Treffen mit zwielichtigen Szenefreunden: LKA-Ermittlerin Bibi Fellner (Adele Neuhauser) sorgte im Wiener „Tatort“ der vergangenen Jahre ordentlich für Betrieb. Ihre zahlreichen Bekanntschaften im Rotlichtmilieu  resultieren aus ihrer Zeit bei der „Sitte“, die sie nach zehn Jahren verließ, um bei der Mordkommission anzuheuern und fortan mit Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) auf Täterjagd zu gehen. Beim siebten gemeinsamen Einsatz des kongenialen Duos erfährt das Sonntagabendpublikum nun erstmalig Details zu Fellners Vergangenheit im Sumpf aus Drogen und Prostitution: Regisseurin Sabine Derflinger („Tag und Nacht“) inszeniert einen „Tatort“, bei dem auf die gewohnte Whodunit-Konstruktion verzichtet und sich stattdessen intensiv mit der weiblichen Hauptfigur auseinandergesetzt wird. Das Ergebnis: ein emotionaler, aber selten wirklich spannender Fall, bei dem die Fans des österreichischen Ermittlerduos dennoch auf ihre Kosten kommen.  

    Bibi Fellner (Adele Neuhauser) plaudert gerade mit ihrer Psychologin, als sie ein Anruf erreicht. Weil die Rufnummer unterdrückt ist, lehnt sie das Gespräch ab. Wenige Minuten später klingelt ihr Handy erneut: Am Apparat ist diesmal ihr Wiener LKA-Kollege Moritz Eisner (Harald Krassnitzer), der von einem grausamen Mordanschlag auf eine bulgarische Ex-Prostituierte berichtet. Ausgerechnet Yulya Bakalova (Milka Kekic), die anonyme Anruferin, ist vor einem Bowling-Center bei lebendigem Leib verbrannt, weil ein kleiner Junge sie mit Benzin aus einer Spielzeug-Pumpgun besprüht hat, als sie sich gerade eine Zigarette anzünden wollte. Der Täter ist schnell ermittelt: Es handelt sich um den 12-jährigen und damit noch nicht strafmündigen Ivo (Abdul Kadir Tuncel), der mit seiner ebenfalls als Prostituierte tätigen Mutter Nora Radneva (Daniela Golpashin) aus Bulgarien nach Österreich übergesiedelt ist. Wer hat das Kind zu dieser schrecklichen Tat angestiftet? Die Spur führt zum kaltblütigen, frisch aus der Haft entlassenen Zuhälter Ilhan Aziz (Murathan Muslu), den Fellner einst dank der Aussage von Bakalova hinter Gitter gebracht hatte...

    "Ich bin Ivo. Ich bin zwölf Jahre alt. Im Sinn §74 StGB ist unmündig. Darf nicht strafen."

    Der Zettel, den der schweigsame Ivo dem verdutzten Oberstleutnant Eisner nach seiner Verhaftung feierlich überreicht, spricht trotz der holprigen Grammatik eine eindeutige Sprache: Die Aufklärung der Täterfrage spielt in „Angezählt“ überhaupt keine Rolle, denn selbst der Anstifter zu Ivos abscheulichem Mord ist schon nach einer halben Stunde identifiziert. „Der hat ein Kind benutzt, um sich an der Yulya zu rächen.“, bilanziert Fellner nach Auswertung der Kamerabilder aus dem Bowling-Center konsterniert, doch die erste Konfrontation des hauptverdächtigen Zuhälters Aziz mit den belastenden Indizien und dem eindeutigen Tatmotiv fällt ernüchternd aus. Der Hobby-Boxer gibt sich aalglatt, brutal und arrogant und verkörpert damit einen „Tatort“-Zuhälter aus dem Bilderbuch – kein Wunder, dass ihm die langjährige Ermittlerin von der „Sitte“ sogleich die Fresse polieren möchte. Fellners spontaner Boxkampf mit Aziz – ihr Engagement in allen Ehren – wirkt dennoch arg konstruiert und eher unfreiwillig amüsant.

    Der Einstieg in die Ermittlungsarbeit geht damit gründlich in die Hose – und gleichzeitig wird klar, dass dem schmierigen Ex-Knacki, der selten ohne seinen nicht zimperlichen Vollzeitschläger Emil Petrow (Zafer Gözütok) anzutreffen ist, trotz der Bilder der Überwachungskamera und dem besten aller Tatmotive nichts am Zeug zu flicken ist. Eisner und Fellner hängen bei den Ermittlungen gegen Aziz völlig in der Luft, was „Angezählt“ zu einem „Tatort“ der anderen, spannungsarmen Sorte macht und nicht jedem Zuschauer schmecken wird. Die gewohnte Kombination aus akribischer Indizienauswertung und permanenter Zeugenbefragung findet diesmal kaum statt – stattdessen entpuppt sich der österreichische Krimi als bedrückende Studie des von Gewalt und finanzieller Abhängigkeit dominierten Wiener Zwangsprostitutionsmilieus, in dem Fellner in einem türkischen Cafe schon einmal einem gierigen Mittfünfziger ihren strammen Hintern hinhält und fachmännisch den Preis für sofortigen Analverkehr verhandelt.

    Humorvolle Momente wie diese bleiben in der 881. Ausgabe der öffentlich-rechtlichen Krimireihe aber die Ausnahme: „SOKO Kitzbühel“-Stammautor Martin Ambrosch, der bereits das Drehbuch zum ebenfalls von Sabine Derflinger inszenierten Wiener „Tatort: Falsch verpackt“ schrieb, lässt den mittlerweile vierzehnjährigen „Tatort“-Ermittler Eisner nur die zweite Geige spielen, konzentriert sich auf Fellners zerrüttetes seelisches Innenleben und macht den siebten Einsatz der Ex-Alkoholikerin zugleich zu ihrem persönlichsten. Fellner, um deren Gesundheit das Publikum diesmal gleich mehrfach zittern darf, gibt sich die Schuld für den Tod ihrer ehemaligen Vertrauten, heult sich hemmungslos an Eisners Schulter aus und gesteht ihrer neuen Psychologin das schwierige Verhältnis zu ihrem überforderten Vater, der sie schon als Kleinkind zu ihren Großeltern gab. Spannend ist das nur selten – dafür aber bewegend und authentisch in Szene gesetzt und vor allem für eingefleischte Fans von Eisner und Fellner hochinteressant.

    Fazit: Tränenreiche Charakterstudie statt kniffliger Täterfrage – der Wiener „Tatort: Angezählt“ ist zum gemeinsamen Rätseln im Familien- und Freundeskreis nicht geeignet. Sehenswert ist das sich stärker an die Fans des Ermittlerduos als an Gelegenheitszuschauer richtende Krimi-Drama dank der authentischen Milieuskizzierung und einigen hochemotionalen Momenten aber trotzdem.

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