Wenn er nicht über Schauspiel und Projektentwicklung an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn doziert, zieht es den Filmemacher René Harder in die entlegensten Regionen der menschlichen Zivilisation. Dort widmet sich der forschende Professor seiner Faszination für Menschen, die schwierigsten Wetterbedingungen nicht nur trotzen, sondern sich in ihnen erst so richtig geborgen und beheimatet fühlen. Nach der preisgekrönten 2006er Kinodoku „Herr Pilipenko und sein U-Boot“, seines in Co-Regie mit Hinrik Drevs entstandenen Porträts eines Mannes, der ein U-Boot in der ukrainischen Steppe baut, widmet sich Harder in seiner jüngsten Dokumentation dem in der Tundra von Skandinavien bis nach Russland beheimateten Minderheitenvolk der Samen. Dessen Dasein und kulturelle Identität ist durch ökonomische und politische Interessen gefährdet und mit „Die Hüter der Tundra“ verschafft Harder ihm Aufmerksamkeit. Sein Film ist eine ebenso engagierte wie melancholische Skizze vom Menschen in der Natur.
Krasnoschtschelje ist ein weit abgelegenes Dorf mit gerade einmal 500 Bewohnern, das letzte seiner Art auf der Kola-Halbinsel. Dort lebt eine Gemeinschaft von Samen, einem vom Aussterben bedrohten Volk, das nördlich des Polarkreises von Norwegen über Finnland und Schweden bis Russland verstreut lebt. Faktoren für seinen allmählichen Niedergang sind neben der brutalen Kälte auch die schlechten Straßen, die mangelhafte medizinische Versorgung und der beschwerliche Warenverkehr. Auch um die Rentierzucht, er Lebensgrundlage der Samen, steht es sehr schlecht: Profithungrige Konzerne wollen sich die Rohstoffe (Gold, Platin und Aluminium) unter den Weidegründen der Rentiere in der Tundra erschließen. Nur eine Frau stellt sich den Unternehmern in den Weg: Sacha, eine 30jährige Abgeordnete des neu gewählten Parlaments der Samen, die als Tochter, Ehefrau, Mutter und Schwester von Rentierzüchtern um die Zukunft ihrer Familie bangt.
Trotz eines entspannten, fast meditativen Erzähltempos sind die 85 Minuten Laufzeit der deutsch-norwegischen Co-Produktion mit vielen spannenden Fakten und Beobachtungen gefüllt. Die im Mittelpunkt der Geschichte stehende Familie mit ihrer märchenerzählenden Großmutter, die zu Beginn in den Film einführt, wird liebevoll und fast schon ehrfürchtig porträtiert. Besonders ihre unbedingte Bindung an ihren Lebensraum und an die Tradition werden hervorgehoben. Dabei sorgen nicht allein die Kraft und der Fleiß der Samen vor der Kamera für starke Momente, sondern auch die sichtbaren Mühen, die der Regisseur und seine Crew hatten, ihre Geschichte zu erzählen. Nach mehrjähriger Recherche verbrachte René Harder mehr als sechs Monate mit seinem kleinen Team im russischen Krasnoschtschelje, um sich nicht nur die Landschaften zu erschließen, sondern auch die Offenheit der Menschen zu erarbeiten. Das Ergebnis ist ein intimer Einblick in die Lebensart der scheuen Protagonisten mit erhabenen Bildern der umgebenden Natur, die angesichts des drohenden Endes fast schon von apokalyptischer Wehmut zeugen.
Fazit: René Harders nachdenkliche Dokumentation „Die Hüter der Tundra“ fühlt sich zuweilen an wie ein weiteres Endzeitdrama über den Niedergang der Menschheit. Nur dass die Geschichte tatsächlich passiert.