Weil Michael Ende 1960 das N-Wort in sein Buch geschrieben hatte, entbrannte vor einigen Jahren eine Kontroverse um „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Letztlich entschied der Verlag, die Wortwahl nicht anzupassen, da sich der 1995 verstorbene Autor nicht mehr dazu äußern konnte. Zumal die Geschichte selbst – obwohl nicht frei von vereinfachenden Klischees – ein nach wie vor kraftvolles Plädoyer für Völkerverständigung und gegen Rassismus ist. Gerade das macht das Buch auch sechs Dekaden nach der Erstveröffentlichung noch relevant. Über die Jahre gab es bereits manch crossmediale Adaption des zeitlosen Stoffs – von der Augsburger Puppenkiste über eine Zeichentrickserie bis hin zu diversen Theateraufführungen. Nun schuf „Die Welle“-Regisseur Dennis Gansel die erste Realverfilmung. Das N-Wort sagt in seinem fantasievollen Familienfilm „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ freilich niemand mehr, ansonsten hält er sich allerdings sehr eng an die Vorlage.
Als König Alfons (Uwe Ochsenknecht) entscheidet, die Dampfeisenbahn Emma zu verschrotten, um mehr Platz zu schaffen auf Lummerland, beschließt Lukas der Lokomotivführer (Henning Baum), das Inselreich gemeinsam mit Emma zu verlassen. Sein Freund Jim Knopf (Solomon Gordon), einst als Findelkind nach Lummerland gekommen und in der Obhut Lukas’ und Frau Waas’ (Annette Frier) aufgewachsen, schließt sich ohne zu zögern an. Kurz nach Antritt ihrer Reise erreicht das Trio ein Hilfegesuch der Prinzessin von Mandala, Li Si (Leighanne Esperanzate): Piraten haben sie entführt und an den Drachen Frau Mahlzahn verkauft. Obwohl sie sich der Gefahren des Weges bewusst sind, nehmen Jim, Lukas und Emma Kurs aufs ferne Kummerland, um die Prinzessin zu retten.
Ein immer wiederkehrendes Motiv in „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ ist, dass sich erste Eindrücke bei genauerer Betrachtung als Trugbild herausstellen – etwa beim vermeintlichen Riesen Tur Tur (Milan Peschel), der in Wahrheit recht klein ist. Der erste Eindruck, den Dennis Gansels Inszenierung hinterlässt, bleibt allerdings. Und das ist gut so. Sofort schlägt einen der faszinierende Look des Films in den Bann: Das in satte, bunte Farben getauchte Lummerland wirkt wie der Fantasie eines (sehr begabten) Kindes entsprungen, die Kulissen haben etwas Spielzeughaftes. Unweigerlich fühlt man sich an die Augsburger Puppenkiste erinnert, von der „Jim Knopf“ immerhin mehrfach populär verarbeitet wurde.
So zollt Gansel zum einen der umfangreichen Historie seines Stoffes Tribut. Gleichzeitig ist er weit davon entfernt, in Nostalgie zu versinken und setzt auf moderne Effekte. Die Helden sehen sich mit einer riesigen Flutwelle konfrontiert, rasen durch ein einstürzendes Gebirge, das zuvor fast wie die Mauer von Westeros in „Game Of Thrones“ aufragte, und wandeln durch die detailverliebt verzierten Straßen Pings, der Hauptstadt des ans alte China angelehnten Reiches Mandala. Die Schwelle zum Bombast überschreitet Gansel dabei nie, weil er das spielerische Element nicht vergisst – das putzige Detail schlägt im Zweifelsfall die protzige Angeberei.
Erzählerisch wirkt der Film dagegen weniger ausgewogen. Eine große Stärke und paradoxerweise gleichzeitig die Krux ist hier die Nähe zur Vorlage. Die Drehbuchautoren, darunter „Das Parfum“-Co-Schreiber Andrew Birkin, schicken Jim, Lukas und Emma durch die Bürokratie Mandalas, den Kohleberg des Halbdrachen Nepomuk (Michael „Bully“ Herbig), die Mathehölle Frau Mahlzahns und sämtliche weitere ikonische Szenen des Buches. Das führt allerdings zu einer etwas atemlosen Dramaturgie des stetigen Auf und Ab. Ein Hindernis folgt auf das andere, jede der auch noch jeweils ziemlich gleich langen Miniepisoden endet mit einem abenteuerlichen Höhepunkt.
Während man das Buch oder eine Serie kapitelweise goutieren kann, führt diese Struktur beim Spielfilm zu einer gewissen Gleichförmigkeit – da ist dann auch das Aufeinandertreffen mit Frau Mahlzahn (für viele Fans das eigentliche Highlight des Buches) letztlich nur eine Etappe von vielen, während anderes wie etwa Jims Eintauchen in einen Eisenbahnkessel nicht sonderlich wirksam dramatisch aufgebauscht wird. So fehlt dem Film ein natürlich wirkender Erzählfluss, aber für Abwechslung ist immer gesorgt, denn die zahlreichen Stationen der Reise bieten allerlei Möglichkeiten, ein beeindruckendes Starensemble in Szene zu setzen.
Rick Kavanian absolviert einen Gastauftritt als die gesamte Wilde 13, Uwe Ochsenknecht und Michael „Bully“ Herbig sorgen als grammatikalisch verwirrter König Alfons und Nilpferddrache Nepomuk für einige schnelle Lacher, Milan Peschel („Der Nanny“) überzeugt in der emotionalen Schlüsselrolle als Scheinriese Tur Tur. Unbezahlbar ist es, wenn Henning Baum („Der letzte Bulle“), dessen Lukas ohnehin wie eine Kreuzung aus Bud Spencer und Kapitän Langstrumpf wirkt, im Bonzensaal Mandalas in bester Plattfuß-Manier die Fäuste auspackt und Dennis Gansel die fröhliche Prügelei einfallsreich mit visuellen Pointen versieht.
In einem weiteren wichtigen Punkt bleiben die Filmemacher dem Vorlagenautor Michael Ende treu. Sie folgen seiner Methode, moralische Botschaften subtil einzuflechten, statt mit erhobenem Zeigefinger Lektionen zu erteilen. Im Vordergrund steht der Spaß – für Kinder, die zum ersten Mal mit Jim Knopf in Berührung kommen ebenso wie für Eltern, die früher selbst am Esstisch die Sätze des winzigen Küchengehilfen Ping Pong zitierten: „Käse? Ist das nicht verschimmelte Milch?“. Und über winzige Durststrecken hilft den ungeduldigen Kleinen sowie den nostalgischen Erwachsenen die ebenso omnipräsente wie unverwüstliche Melodie von „Eine Insel mit zwei Bergen“ hinweg.
Fazit: Die erste Realverfilmung von Michael Endes Kinderbuch beeindruckt vor allem mit ihrem fantasievollen Look und ihrem spielfreudigen Starensemble.