„Was sind das für Leute, die einen ganzen Tag damit verbringen, uns eine Augenbraue hochziehen zu lassen?“ Das fragen sich Mr. Pickles und Mr. Trout, zwei der Figuren aus dem Stop-Motion-Animationsabenteuer „Die Boxtrolls“, in einer der lustigsten Abspannsequenzen überhaupt und kommen zu dem Schluss: „Arbeit kann man das nicht nennen, ist wohl eher ein Hobby.“ Die beiden Handlanger des Bösewichts verlassen in bester Chuck-Jones-Manier (der ließ in seinen Cartoons einst Daffy Duck und Bugs Bunny gegen die Willkür ihrer Animateure aufbegehren) den fiktionalen Rahmen der Geschichte und machen die Produktionsbedingungen selbst zum Thema. Und das ist nicht nur äußerst amüsant und clever, sondern erweist sich auch als ironisches Selbstporträt der Mannschaft des Animationsstudios Laika. Die hat sich auf aufwändige 3D-Stop-Motion spezialisiert, bei der einerseits ganz traditionell in minutiöser Kleinarbeit mit Puppen in handgemachten Kulissen an jedem einzelnen Filmbild gefeilt wird und andererseits die neuesten Errungenschaften der Computertechnik zum Einsatz kommen. Mit dieser Kombination hat Laika zuletzt für „Coraline“ und „ParaNorman“ jeweils eine verdiente Oscar-Nominierung für den Besten Animationsfilm erhalten und auch wenn das Regieduo Graham Annable und Anthony Stacchi bei „Die Boxtrolls“ erzählerisch nicht ganz die Klasse der beiden Vorgänger erreicht, so ist die mit reichlich (britischem) Humor angereicherte Fabel doch ebenfalls ein überaus charmantes Vergnügen.
In den verwinkelten Gassen des viktorianischen Städtchens Cheesebridge geht die Angst vor den Boxtrolls um. Diese kleinen Kobolde im Pappkarton stehlen angeblich im Dunkeln Babys, deshalb wird auf Betreiben des „Schädlingsbekämpfer“ Archibald Snatcher (Stimme: Ben Kingsley/deutsche Fassung: Joachim Tennstedt) eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Der Rot-Hut-Träger bietet dem Bürgermeister Lord Portley-Rind (Jared Harris/Holger Mahlich) seine Dienste an und verspricht, die vermeintlichen Plagegeister auszurotten. Als Gegenleistung möchte er nach erledigtem Auftrag einen Weißen Hut - so wie ihn die Honoratioren von Cheesebridge tragen. Als Winnie (Elle Fanning/Jodie Blank), die Tochter des Stadtoberhaupts, den Jungen Eggs (Isaac Hempstead Wright/Patrick Baehr) kennenlernt, führt der sie in die unterirdischen Höhlen der Boxtrolls, denn dort ist er als Findelkind aufgewachsen. Zu Winnies Überraschung sind die wuseligen Wichte nämlich gar keine Monster, sondern liebenswerte Wesen, die aus Schrott und Abfall allerlei wunderliche Dinge basteln. Die Verfolgung der Kobolde ist nur einem Komplott des fiesen Snatcher geschuldet, der nun mit aller Macht verhindern will, dass die Wahrheit ans Licht kommt…
Die Drehbuchautoren Irena Brignull und Adam Pava haben von Alan Snows über 500 Seiten starker Vorlage „Here Be Monsters“ nur einen zentralen Handlungsstrang beibehalten und aus der Geschichte der Boxtrolls eine Parabel über die Unterdrückung und Verfolgung von Minderheiten, die Angst vor dem Fremden und (un)moralische Gleichgültigkeit gemacht. Durch die Intrigen eines geschickten Agitators wird der Ruf der harmlosen Miniaturwesen ruiniert und ihnen droht die komplette Auslöschung. Wenn der Kartonstapel (in dieser Formation verbringen die Kobolde ihre Nächte) immer kleiner wird und wenn die letzten von Snatcher in die Zwangsarbeit(!) verschleppten Trolle von seiner höllischen Zerstörungsmaschine (ein dampfendes Metallungetüm aus Rohren, Greifern und kunstvoll montierten Kleinteilen) zermalmt werden, dann sind Assoziationen von Völkermorden und Kriegsszenarien nicht weit. Daran knüpfen die Macher eine sympathische Toleranzbotschaft und verbinden sie mit einer etwas überdeutlichen Kritik an der Unkultur des Wegschauens. Die Bewohner von Cheesebridge (allen voran der Bürgermeister) sind blind gegenüber dem mörderischen Treiben und widmen sich lieber dem exzessiven Käsegenuss. Der Verzehr von Brie, Gouda und Co. hat hier die Rolle des Mammons übernommen und der zwielichtige Außenseiter Snatcher ersehnt dann auch nichts mehr als den Zugang zum exklusiven Käseverkostungsraum - obwohl er eine Allergie gegen Milchprodukte hat, die sein Gesicht auf die fürchterlichste Art anschwellen lässt.
Die Kinder sehen die Dinge wie sie sind und stellen Gier, Dummheit und Ignoranz bloß. Das mag nicht ganz die Überzeugungskraft haben wie etwa in „ParaNorman“, weil die Figuren doch eher eindimensional bleiben, aber dafür gibt es hier so viele absurde Ideen und liebevolle Details am Rande, dass man die eigentliche Handlung zwischendurch fast vergisst. Das fängt bei den knuffigen Boxtrolls an, die vielleicht nicht mit den Minions aus den „Ich – einfach unverbesserlich“-Filmen mithalten können, aber mit ihrer drolligen Kunstsprache, ihrer Scheu vor der Nacktheit (keiner der ausschließlich männlichen Kobolde verlässt seinen Karton, den sie wie Schildkröten ihren Panzer tragen) sowie ihrem Appetit für buntes Käfergetier auch allemal Kultpotenzial haben. Es ist nur bedauerlich, dass keiner der Wichte sich so richtig in den Vordergrund spielen darf. Dafür sorgen Snatchers Helfer Mr. Pickles (Richard Ayoade/Rainer Fritzsche) und Mr. Trout (Nick Frost/Olaf Reichmann) mit ihren Monty-Python-würdigen Dialogen über letzte philosophische Fragen (sie halten sich zu etwa 60 Prozent selbst für die Guten) für Glanzlichter, denen sie im Abspann dann den Höhepunkt folgen lassen. Zu ihnen gesellt sich vorher noch der Erfinder Trubshaw (Simon Pegg/Dennis Schmidt-Foß), der zehn Jahre mit dem Kopf nach unten an der Decke hing und zu allem nur ein Wort zu sagen hat: „Marmelade!“ Und das sinnliche Vergnügen, das der historische Look der Stadt, ein gigantischer Käsegau und eine ganz erstaunliche Ballszene bereiten, darf auch nicht unerwähnt bleiben.
Fazit: 79 Sets und über 20.000 Requisiten kamen bei diesem fantasievollen und detailverliebten Animationsabenteuer zum Einsatz. Dazu gesellen sich liebenswerte Fabelwesen, reichlich britischer Humor und jede Menge Käse.