Einer der wohl meistgehörten Ratschläge an Nachwuchsfilmemacher und -autoren lautet: „Erzähle von dem, was du kennst!“ Diese Empfehlung hat der auf Hawaii geborene und aufgewachsene Regisseur Destin Cretton beherzigt und ist dabei eben nicht in eine narzisstische Nabelschau verfallen, wie sie sonst häufig im Frühwerk von Jungkünstlern anzutreffen sind. Seine nach der Uni als Betreuer und Aufseher in einer Einrichtung für „Risiko-Teenager“ gesammelten Erfahrungen verarbeitete Cretton 2008 zunächst zu dem Kurzfilm „Short Term 12“, doch der Stoff ließ ihn auch danach nicht los. Im Anschluss an seinen ersten langen Spielfilm „I Am Not a Hipster“ hat er die vorige Arbeit wieder aufgegriffen und die Geschichte ausgeweitet. Auf der Grundlage des neuen Drehbuchs entstand dann ein 96-minütiges, ebenfalls „Short Term 12“ genanntes Independent-Drama. In diesem Werk findet Cretton nun die perfekte Balance zwischen einfühlsamer Beobachtung, glaubhafter und berührender Darstellung äußerst schwieriger Themen, sanfter Überhöhung und dem Ausdruck persönlicher Überzeugungen. Diese Mischung macht „Short Term 12 - Stille Helden“ zu einem ungewöhnlich aufwühlenden und zugleich ungemein hoffnungsvollen Filmerlebnis – und sie etabliert Cretton mit einem Schlag als einen der besten Geschichtenerzähler des gegenwärtigen US-Kinos.
Die Mittzwanzigerin Grace (Brie Larson) arbeitet in einer Pflegeeinrichtung für gefährdete Jugendliche irgendwo im Raum Los Angeles. Zusammen mit ihrem Freund Mason (John Gallagher Jr.) und weiteren gleichaltrigen Kollegen führt sie die Aufsicht und kümmert sich um die alltägliche Betreuung der zum Teil schwer traumatisierten Teenager, die in dem Heim ein vorübergehendes Zuhause finden (daher die Bezeichnung Short Term 12). Da ist etwa Sammy (Alex Calloway), ein schüchterner Junge, der sich mit kleinen Stoffpuppen in Fantasiewelten hineinträumt und immer mal wieder versucht auszureißen – sobald er es bis durch das Tor des Grundstücks schafft, muss das Personal ihn ziehen lassen. Marcus (Keith Stanfield) dagegen will das Haus, in dem die Zimmertüren immer offenstehen müssen, damit sich niemand so leicht etwas antun kann, gar nicht verlassen, aber er muss: In einer Woche wird er 18 und erreicht die Altersgrenze. Als die 15-jährige Jayden (Kaitlyn Dever) neu in die Einrichtung kommt, erkennt Grace sich in dem aufmüpfigen Mädchen selbst wieder und geht in ihrem Engagement schließlich zu weit. Gleichzeitig wird sie von ihren eigenen Problemen eingeholt und muss eine wichtige Entscheidung treffen.
Die persönlichen Erfahrungen, die Regisseur und Autor Destin Cretton als Beschäftigter in einer ähnlichen Short-Term-Einrichtung gemacht hat und seine ausführlichen Interviews mit anderen Angestellten finden deutlich spürbaren Niederschlag auf der Leinwand. Von der Medikamentenausgabe über die minutiöse Kontrolldurchsuchung der Zimmer, bei der auch das gut in (!) der Matratze versteckte Drogenpäckchen nicht unentdeckt bleibt bis zu den oft unruhigen Gruppensitzungen und Gemeinschaftsaktivitäten: Mit Geduld und fast dokumentarisch anmutender Genauigkeit porträtiert Cretton das Leben im Heim und die Menschen, die dort wohnen oder arbeiten. Hier sagt ein langer Kamerablick auf die unterschiedlichen Zimmereinrichtungen mehr über die jeweiligen Jugendlichen als es die Lektüre ihrer Krankenakte tun würde. Nebenbei zeigt uns Cretton auch noch, wie mangelhaft und unterfinanziert dieses System staatlicher Hilfe ist. Höherqualifiziertes medizinisches Personal ist nicht in der Nähe der Jugendlichen zu sehen, die Last der schwierigen und oft zermürbenden Alltagsarbeit liegt auf Studenten wie Grace und Mason. Wieviel Erfahrung, Einfühlungsvermögen und auch Härte dafür benötigt wird, zeigt uns Cresson über Nate (Rami Malek), das neue Mitglied im Betreuerteam. Er macht ein paar ebenso verständliche wie unvermeidliche Anfängerfehler und erlebt schneller als ihm lieb ist eine markerschütternde Feuertaufe.
Jaydens Aus- und Zusammenbruch, bei dem es Grace, Mason und Nate zu dritt nur mit größter Mühe schaffen, das tobende und spuckende Mädchen in Zaum zu halten, ist in seiner rohen Gewalt und seiner emotionalen Wucht eine der härtesten Szenen des Films. Aber obwohl Destin Cretton hier wie auch bei einem späteren blutigen Zwischenfall nichts beschönigt, ist „Short Term 12“ letztlich eben kein bis in die letzte bittere Konsequenz auserzähltes Psychiatrie-Drama, sondern ein Film über Menschen in Not und wie ihnen geholfen werden kann. Und in diesem wird die niederschmetternde Szene, in der die tief in der Seele verletzte Jayden sich Grace öffnet, mit der sie nicht nur die zahlreichen Ritznarben teilt („Es ist unmöglich, sich um anderes zu sorgen, wenn das Blut aus einem hervorquillt“, so beschreibt die Ältere den Zustand), zu einem regelrechten Glaubensbekenntnis des Regisseurs. Ohne an psychologischer Plausibilität zu verlieren, steht Jaydens Kindergeschichte über die verhängnisvolle Freundschaft zwischen einem Oktopus und einem Hai für die heilende und hoffnungsvolle Kraft des Erzählens. Immer wieder finden die leidenden Figuren dieses Films ein Ventil in künstlerischen Ausdrucksformen – von Marcus‘ bestürzendem Rap-Song über seine Mutter bis zu den Zeichnungen von Jayden und Grace.
Dass solche heiklen Szenen niemals kalkuliert, sondern stets vollkommen natürlich wirken, ist auch der sensiblen Handkameraarbeit von Brett Pawlak („Hellion“), der nah dran ist, aber nie aufdringlich wird, und zu wesentlichen Teilen den Schauspielern zu verdanken. So ist die Darbietung von Serienstar Kaitlyn Dever („Last Man Standing“, „Justified“) zugleich unerschrocken und erstaunlich kontrolliert, während Keith Stanfield („The Purge 2: Anarchy“), der als einziger Darsteller auch schon beim Kurzfilm dabei war, mit Herz und Seele in seiner Rolle aufzugehen scheint. Zusammengehalten wird der Film aber von der brillanten Brie Larson („The Spectacular Now“). Sie zeigt als Grace (die Rolle war im ersten „Short Term 12“ noch eine Männerfigur) eine schlicht atemberaubende Darbietung. Im Dienst strahlt sie natürliche Autorität und zugleich tiefes Verständnis aus. Sie bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch das Minenfeld fremder Verletzungen, aber diese Empathie fordert ihr alles ab. Wenn sie ihren Arbeitsplatz verlässt, dann werden ihr die eigenen Grenzen bewusst – und dann zerschmettert sie schon mal die neue Lampe ihres Chefs Jack (Frantz Turner). Der mag mit seinen Warnungen („Du bist nicht ihr Freund und du bist nicht ihre Therapeutin“) zwar recht haben, aber das lindert ihren Frust natürlich nicht.
Zur Meisterleistung wird Larsons Arbeit in den privaten Szenen mit ihrem Freund Mason (John Gallagher Jr. als Sympathieträger mit Engelsgeduld). Dort steht ihr die Traurigkeit fast ständig im Gesicht, so sehr halten sie die eigenen Dämonen im Würgegriff. Als sie erfährt, dass ihr Vater demnächst aus dem Gefängnis entlassen wird, lässt sie niemanden mehr an sich heran. Ihre Abweisung ist erschreckend kühl, doch man spürt: Sie kann nicht anders. Cretton lässt solche düsteren Seiten nicht unter den Tisch fallen, aber er schwelgt nicht in ihnen, sondern hat anderes im Sinn. Nicht zufällig beginnt er „Short Term 12“ mit einer Erzählung (Mason berichtet dem Neuling Nate von einem peinlichen Erlebnis, das er an seinem ersten Tag hatte, als er einem Ausreißer gefolgt ist) und schließt den Bogen am Ende mit einer weiteren Geschichte des redseligen Betreuers. Diese letzte Story ist zu schön, um wahr zu sein - so kommentiert es jedenfalls einer der Zuhörer. Ein skeptischer Betrachter könnte auch die finale Wendung in Graces Leben ähnlich empfinden, aber wenn diese auch wenig wahrscheinlich sein mag, so ist sie doch wohlverdient. Hier lässt der Autor poetische Gerechtigkeit walten – von diesem Privileg des mitfühlenden Geschichtenerzählers macht Cretton schon bei einer gemeinschaftlichen Geburtstagsüberraschung Gebrauch (die vielleicht schönste Szene des Films) und in der wunderbar optimistischen Schlussszene bringt er es geradezu programmatisch auf den Punkt.
Fazit: „Short Term 12 - Stille Helden“ ist ein kleines Kinowunder: ein intensives Drama über die finstersten Abgründe der Seele und zugleich ein tief optimistischer Film über die Kraft menschlichen Zusammenhalts und künstlerischer Betätigung.