Echoortung ist eine Methode zur Bestimmung der Position und Größe umliegender Objekte durch die Nutzung akustischer Echos. Sehbehinderten Menschen wird dadurch eine Form der Orientierung ohne Blindenstock ermöglicht. Fasziniert von dieser Technik entwirft der polnische Regisseur Andrzej Jakimowski („Kleine Tricks“) in seinem leichtfüßigen Drama „Imagine“ die Geschichte eines Blinden, dem die Echoortung zu einem selbst bestimmten, unabhängigen Leben verholfen hat und der nun seine nicht unumstrittene Technik an andere Leidensgenossen weitergeben möchte. Auf geschickte Weise eröffnet Jakimowski mit „Imagine“ einen Einblick in die Wahrnehmungswelt von Blinden, vernachlässigt dabei aber bisweilen die eigentliche Story.
Der blinde Ian (Edward Hogg) hat sich in jahrelanger Arbeit die Fähigkeit angeeignet, sich mit Hilfe von Schallwellen zu orientieren. Die Echoortung verschafft ihm ein selbst bestimmtes Leben ohne Blindenstock, das er auch anderen Blinden ermöglichen will. Daher übernimmt der charismatische Engländer den Orientierungsunterricht in einer Spezialklinik in Lissabon. Seinen anfangs äußerst skeptischen sehbehinderten Schülern eröffnet der junge Lehrer schon bald eine völlig neue Form der Wahrnehmung: Er ermutigt sie dazu, ihre Imagination zu nutzen, um sich ein eigenes Bild ihrer Umwelt zu entwerfen und die Grenzen zwischen Sehen und Blindheit aufzubrechen. Auch bei der stark unter ihrer Behinderung leidenden Eva (Alexandra Maria Lara) schürt dies Hoffnung auf ein selbstständigeres Leben. Doch Ians zuweilen riskante Methode der Orientierung stößt beim Chefarzt der Klinik (Francis Frappat) auf große Zweifel...
Anders als Fernando Meirelles in seiner Romanverfilmung „Die Stadt der Blinden“ verzichtet Andrzej Jakimowski in „Imagine“ auf extreme Unschärfespielereien um Blindheit optisch wiederzugeben. Vielmehr gelingt es ihm durch die Hervorhebung von akustischen Reizen sowie geschickt gewählte Bildausschnitte, welche die Umgebung nur schrittweise offenbaren, ein Gefühl für die Wahrnehmungswelt von Blinden zu erzeugen. Die Schilderungen der Schüler, die von ihrem Lehrer in der Technik der Echoortung unterrichtet werden, lassen den Zuschauer zudem an dem langsamen Schulungsprozess des Gehörs teilhaben. Da Menschen mit Sehbehinderung ihre Umwelt nur erahnen können und letztlich die visuelle Wahrnehmung einzig von ihrer Vorstellungskraft ausgeht, werden Spaziergänge zu einem Erkundungsabenteuer. Die Gefahr, die dabei oft schon von kleinen Hindernissen und Unwägbarkeiten ausgeht, wird in „Imagine“ überzeugend dargestellt.
Doch Protagonist Ian geht noch weiter, als sich bloß per Echo zu orientieren: Er nutzt alle Arten von sensorischem Reiz, um sich – angereichert von der eigenen Phantasie – ein Bild der Welt zu erschaffen. Er versucht seine Schüler dazu zu animieren, ihre Passivität und Angst vor dem Unbekannten abzulegen, für ihre Unabhängigkeit Risiken in Kauf zu nehmen und an die Kraft der Imagination zu glauben. Dabei deuten die Schrammen, die er nach Ausflügen in die Umgebung oft aufweist, von den Gefahren, die ein Fortbewegen ohne Blindenstock mit sich bringt. Während Ian die Gefahr der Orientierungstechnik als unumgänglichen Preis für ein selbst bestimmtes Leben ansieht, kritisiert der zuständige Chefarzt der Klinik seine unorthodoxe Methode und bezeichnet die Echoortung als zu radikal und gefährlich für seine blinden Patienten. Solche inhaltlichen Konflikte bleiben aber etwas zu sehr an der Oberfläche, wie auch die Figuren, die ohne jegliche Informationen über ihre Vergangenheit in dem episodenhaft erzählten Film nur sehr schemenhaft skizziert werden. Ian und Eva bilden so zwar ein sympathisches Paar, doch ihre sich langsam füreinander entwickelnden Gefühle berühren nicht.
Edward Hogg („Anonymus“), der lichtundurchlässige Kontaktlinsen beim Dreh trug, verleiht dem eigensinnigen Ian mit seinem Spiel einen Hauch von Exzentrik und verdeutlicht die ansteckende Neugier auf die Welt und den ungemein einnehmenden Optimismus seiner Figur. So wird verständlich, warum die Schüler so gebannt seinen Wahrnehmungsschilderungen folgen, auch wenn stets die Frage im Raum steht, inwieweit sie eigentlich der Realität entsprechen und ob beispielsweise das große Schiff im Hafen nicht letztlich nur Ians überbrodelnder Fantasie entspringt. An Hoggs Seite überzeugt Alexandra Maria Lara („Der Untergang“, „Control“) als sich langsam öffnende Melancholikerin, die in der Echoorientierung und Ians Erläuterungen der Umwelt eine neue Chance sieht, wieder selbstsicherer durchs Leben zu gehen und auch einfach mal einen Flirt mit dem Mann am Nachbartisch wagen zu können.
Fazit: Die etwas zu episodische Geschichte von „Imagine“ verhindert zwar, dass sich die Figuren richtig entfalten können, doch Regisseur Andrzej Jakimowski gelingt es die Wahrnehmung blinder Menschen auf besondere Weise audiovisuell erfahrbar zu machen und somit das Gefühl für die Unsicherheit aber auch den Entdeckungsdrang, mit dem Blinde ihrer Umwelt begegnen, darzustellen.