Von der so genannten „Berliner Schule“ soll hier gar nicht weiter die Rede sein. Das war von Anfang an nur ein Konstrukt, das Gemeinsamkeiten behauptet, wo doch eigentlich Unterschiede, wenn nicht gar Widersprüche vorherrschen. Stattdessen soll nun umso mehr von einem deutschen Kino die Rede sein, das sich nicht anpasst und nicht einfügt, das ebenso mutig wie radikal ist und seinem Publikum auf Augenhöhe begegnet. Letzteres mag ein wenig seltsam klingen bei einem Film, der sich so konsequent jeder simplen Einordnung oder Erklärung entzieht. „Halbschatten“, Nicolas Wackerbarths Porträt einer Frau Ende Dreißig, die wie eine Fremde durch ihr eigenes Leben zu treiben scheint, ist zunächst einmal ein Rätsel und vielleicht auch eine Zumutung. Aber die gilt es auszuhalten. Je weiter Regisseur Wackerbarth („Unten Mitte Kinn“) hinter den Bildern zu verschwinden scheint, je deutlicher jede Einstellung auf ihr eigenes Recht pocht, desto mehr nähern sich Filmemacher und Betrachter einander an. Sie lassen sich gemeinsam von dem Fluss der Bilder mitreißen und tragen, bis die Welt und das Leben sie beide verschluckt haben.
Als Merle (Anne Ratte-Polle) in Südfrankreich am Haus ihres Verlegers Romuald ankommt, ist niemand da. Die Einladung, die einmal ausgesprochen wurde, ist bedeutungslos geworden. Niemand erwartet sie. Die Verbindung, die es vielleicht einmal zwischen ihr und Romuald gab, geht allem Anschein nach nicht über eine flüchtige Affäre hinaus. Was sich die Autorin, die diesen Sommer auch zum Schreiben nutzen will, von ihr versprochen hat, bleibt dabei genauso offen, wie Romualds Verhältnis zu ihr. Irgendwann lässt sie dann ein Arbeiter, der im Haus nach dem Rechten sieht, herein. Später kommen dann Emma (Emma Bading) und Felix (Leonard Proxauf), Romualds Kinder, vom Strand zurück. Auch sie warten auf ihren Vater, wissen aber nichts Genaueres.
Tage und Nächte ohne Ziel. Schon bei Merles Ankunft vor der Sommervilla scheint die Natur wichtiger als die Menschen zu sein. Das Rauschen des Windes in den Bäumen dominiert auf der Tonspur. Rauch steigt in den Himmel auf, doch das Feuer bleibt unsichtbar. Auch das ist nur ein weiteres Detail in Nicolas Wackerbarths Vermessung des Lebens in Südfrankreich. Auf die Frage, wovon ihr Buch denn handelt, erklärt Merle, dass sich seine Geschichte um eine Wissenschaftlerin, eine Botanikerin, im 19. Jahrhundert dreht, und fügt dann ganz schnell hinzu, dass das nicht das Entscheidende sei. Eigentlich ginge es darum, wie Dinge ihren Namen erhalten. In Wackerbarths Welt des frühen 21. Jahrhunderts hat alles schon seinen Namen. Aber der bedeutet hier nichts mehr. Im Mittelpunkt seines Films steht zwar Merle, aber eigentlich erzählt er vom Verschwinden der Namen und damit auch vom Verschwinden des Einzelnen.
Natürlich gibt es Verbindungen zwischen Nicolas Wackerbarths Drama und anderen deutschen Filmen der vergangenen zehn oder fünfzehn Jahre, vor allem einer, Angela Schanelecs „Marseille“, drängt sich geradezu als Vergleichspunkt auf, und das nicht nur aufgrund des gemeinsamen Kameramanns Reinhold Vorschneider („Im Schatten“). Schließlich lässt sich auch Schanelecs Protagonistin, die Photographin Sophie, auf den Wellen ihres Lebens dahin treiben. Doch Wackerbarth treibt die Entfremdung zwischen der Welt und den Menschen, zwischen seinen Bildern und dem Geschehen noch weiter. An Merle und ihrer provokanten Passivität muss jegliche Psychologie scheitern. Nichts lässt sich mehr erklären, und keine Szene ergibt sich mehr aus der vorherigen. Wackerbarth reiht Momente und Begegnungen aneinander, ohne sie untereinander zu verknüpfen und auch ohne sie zu addieren. Hier steht wirklich jede Einstellung für sich und fordert den Betrachter dazu auf, sich ihr gegenüber zu positionieren.
Selbst die wenigen Konstanten des Films, so verlaufen nahezu alle Begegnungen Merles mit anderen Menschen mehr oder weniger feindselig ab, ergeben kein schlüssiges und in diesem Sinne verlässliches Gesamtbild. Was bleibt, ist der Eindruck einer grundsätzlichen Fremdheit des Menschen, den anderen wie auch sich selbst gegenüber. So lässt sich auch Anne Ratte-Polles („Willenbrock“) Spiel niemals lesen. Merles Motivationen bleiben ein Enigma, aber gerade das macht dieses Porträt einer mehr und mehr Verschwindenden so faszinierend. Letztlich geht es dem Betrachter mit ihr genauso wie mit den meisten Menschen, denen er in seinem eigenen Leben begegnet: Sie bleibt eine Projektionsfläche, deren Innerstes den Blicken anderer verborgen ist.
Fazit: Nicolas Wackerbarth bedient keinerlei Erwartungen. Er setzt stattdessen ganz auf einen freien Blick, der Szenen und Situationen einfach nur einfängt, ohne dabei etwas zu erklären. Am Ende steht dann das Bild einer Straße in der südfranzösischen Provinz in der Morgendämmerung. Es regnet, die Menschen eilen an noch geschlossenen Geschäften vorbei. Alles bleibt flüchtig und anonym. Merle ist verschwunden. Der Film hat seine Protagonistin endgültig aus den Augen verloren und damit zu einer überwältigenden Radikalität gefunden, die nicht nur im zugegebenermaßen an Wagnissen eher armen deutschen Kino Maßstäbe setzt.