In den (über-)großen Fußstapfen von "Eyes Wide Shut"
Von Lars-Christian DanielsDie erstmalig 1925 veröffentlichte „Traumnovelle“ des Wiener Dramatikers Arthur Schnitzler ist bis heute nicht nur von vielen Schüler*innen im Deutschunterricht behandelt, sondern auch schon zweimal verfilmt worden. Deutlich bekannter als Wolfgang Glücks gleichnamige Austro-Verfilmung von 1969 mit „Sissi“-Star Karlheinz Böhm in der Hauptrolle ist Stanley Kubricks Erotik-Drama „Eyes Wide Shut“, in dem der Meisterregisseur die Story nach New York verlegt hat: Kubrick adaptierte Schnitzlers Vorlage im letzten Film vor seinem Tod recht lose und schuf 1999 ein unter Filmkritiker*innen umstrittenes, atmosphärisch aber unheimlich starkes Werk. Dem damaligen Hollywood-Traumpaar Nicole Kidman und Tom Cruise bescherte er damit auch kommerziell einen großen Erfolg.
Mit Regisseur und Drehbuchautor Florian Frerichs („Das letzte Mahl“) knöpft sich nun erstmalig ein deutscher Filmemacher Schnitzlers berühmte Novelle für eine Leinwandadaption vor – und orientiert sich dabei zugleich deutlich enger an der literarischen Vorlage. „Mit den bisherigen Verfilmungen wollten wir uns gar nicht messen, sondern eine eigene Version machen“, schraubte Frerichs beim Screening seines Films auf den Biberacher Filmfestspielen die Erwartungen etwas herunter. Und tatsächlich wirkt seine Neuverfilmung ein wenig mutlos. Statt dem Stoff einen klaren, unverkennbar eigenen Stempel aufzudrücken, hangelt er sich über weite Strecken brav durch die Stationen der Vorlage und liefert dabei auch inszenatorisch nur Hausmannskost.
Berlin, im Jahr 2024: Das Liebesleben des angesehenen Arztes Jakob (Nikolai Kinski) und seiner Frau Amelia (Laurine Prince), die ein Kind namens Henny (Casimir Teuffel von Birkensee) haben, ist nicht mehr so aufregend wie früher. Um wieder Pep in ihre Ehe zu bringen, besuchen die beiden eine freizügige Techno-Party, bei der sie beide heftig mit anderen Menschen flirten. Wenngleich sie anschließend gemeinsam nach Hause gehen, wird Jakob und Amelia zunehmend klar: In ihnen schlummern unerfüllte Fantasien und sexuelle Sehnsüchte, die sie bisher noch nicht ausgelebt haben. Ihre Ehe möchten die Liebenden aber nicht aufs Spiel setzen.
Noch in derselben Nacht erhält Jakob einen Anruf von der jungen Marianne (Nike Martens), deren Vater Alois (Stephen M. Gilbert) im Sterben liegt. Als der Arzt in der Wohnung eintrifft, ist der alte Mann bereits tot. Die aufgewühlte Marianne wirft sich Jakob unerwartet an den Hals, er weist sie aber höflich zurück und streift danach ziellos durch die Hauptstadt. Als er im Rotlichtviertel den umtriebigen Klavierspieler Nachtigall (Bruno Eyron) wiedertrifft, erzählt der ihm von einem streng geheimen Maskenball in einer Villa am Wannsee, der in wenigen Stunden startet. Und er nennt ihm auch das Passwort, um dort hineingelassen zu werden…
So richtig scheint Florian Frerichs sich nicht entscheiden zu können: Möchte er Schnitzlers Geschichte der 1920er Jahre nun in ein modernes Erotikdrama mit frischem Anstrich transformieren oder nicht? Seine Version der „Traumnovelle“ wirkt an mancher Stelle inkonsequent. Etwa bei den Dialogen: Während die entrückten Gespräche von Jakob und Amelia in der deutschen Synchronfassung seltsam monoton, antiquiert und theaterhaft klingen (nicht zuletzt, weil oft das Präteritum verwendet wird), erzählt man sich in den Berliner Nachtclubs derbe Gags und spricht das normale Deutsch der 2020er Jahre. „Willst du ficken?“, wird Jakob etwa von seiner ersten Flirtbekanntschaft gefragt, die ihrer weiblichen Begleitung dank einer Vibrator-App gerade lustvolles Stöhnen entlockt.
Auch anderswo ist Frerichs Adaption im Hier und Jetzt angekommen: Setzte Kubrick bei seiner Verfilmung auf makellose Körper, helle Haut und westliche Schönheitsideale der 1990er Jahre, zeugt die Besetzung der „Traumnovelle“ zumindest in den Nebenrollen von Diversität. People of Color, Mehrgewichtige und non-binäre Bartträger*innen geben sich die Klinke in die Hand – da sticht der tätowierte Detlev Buck in seiner Rolle als zwielichtiger Kostümverleiher Gibiser als „alter weißer Mann“ fast schon heraus. Auch köstliche Anspielungen auf den Zeitgeist gibt es zu entdecken: Die Prostituierte aus Schnitzlers Novelle wird im Film zum OnlyFans-Model, aus deren Tod die Zeitung einen Aufmacher macht, während ein abgebranntes Arthouse-Theater nur eine Randnotiz wert ist.
Andere Easter Eggs – etwa die Namensschilder „D. Cronenberg“ und „G. Romero“ – stehen zusammenhangslos im Raum und auch erzählerisch wirkt die „Traumnovelle“ selten aus einem Guss. Jakobs schwer zu visualisierende Gedanken, die im Buch eine zentrale Rolle spielen, werden meist in Engelchen-und-Teufelchen-Manier aus dem Off eingesprochen, ehe der Mediziner auf der Zielgeraden des Films plötzlich die „Vierte Wand“ durchbricht und sich direkt ans Publikum wendet. Nikolai Kinskis Spiel wirkt dabei bisweilen etwas teilnahmslos: Fast gleichgültig lauscht sein Jakob den Ausführungen seiner Gattin, die sich in einen Dänen verguckt hat und deren Sehnsüchte wir erst bei einer animierten Pornosequenz wirklich greifen können. Dass die beiden ein Paar sind, erscheint behauptet, und anders als Jakob bleibt uns seine Frau bis zum Abspann ziemlich fremd.
Der Besuch bei Mizzi (Nora Islei), die Begegnung mit Professor Roediger (Rodney Charles), der Besuch im Etablissement von Lady Mina (Nicole Nagel): Die Stationen der literarischen Vorlage werden fast 1:1 in die Verfilmung übernommen, bisweilen humorvoll variiert (Stichwort: Prügelei) und ins heutige Berliner Nachtleben umgemünzt. Zumindest zwischen den Episoden gibt es aber einen zusätzlichen Schwerpunkt: Bei seinem Streifzug durch die Spree-Metropole, die bis auf S-Bahn-Stationen und Vogelperspektiven als Schauplatz austauschbar bleibt, hört Jakob Giuseppe Verdis „Ein Maskenball“ und findet sich in Gedanken als Hauptdarsteller inmitten jener Oper wieder. Mit fortlaufender Spieldauer sind die Gesangseinschübe, die in Anlehnung an Jakobs Beruf stets mit blutigem Husten oder aufgeschlitzten Kehlen enden, aber ermüdend – ebenso wie die omnipräsent im Hintergrund hängenden Plakate für das Gastspiel am Berliner Renaissance-Theater.
Recht bieder und harmlos präsentiert sich die „Traumnovelle“ auch mit Blick auf die Erotik: Jede Episode aus den ersten „Game Of Thrones“-Staffeln bietet mehr Frivoles und Freizügiges als die (gerade im Vergleich zu Kubricks Version) eher enttäuschende Maskenball-Orgie, auf die sich Jakob im Mittelteil schleicht. Ein riesiger Strap-on-Penis, mit dem sich ein kosovarischer Minister von einer Prostituierten rannehmen lässt, ist tatsächlich schon das Wildeste in diesem Film. Auch das skurrile Gestaltenkabinett des Films übertrifft kaum das einer nächtlichen U-Bahn-Fahrt durch Berlin. So steuert das selten surreale, aber zumindest humorvoll aufgelockerte Erotikdrama ohne große Aufreger auf sein Finale zu – und auch das gestaltet sich fast genauso wie in der Novelle.
Fazit: Fans von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ dürften sich in der eng am Original orientierten Verfilmung wiederfinden, eigene Duftmarken setzt die Leinwandadaption allerdings kaum. Auch die Berliner Figuren lassen uns trotz ihrer behaupteten Sehnsüchte seltsam kalt.
Wir haben „Traumnovelle“ bei den 46. Biberacher Filmfestspielen gesehen.