Erst der Publikumspreis beim prestigeträchtigen Filmfestival in Locarno, dann zwei Preise beim Festival des frankofonen Films in Angoulême und bald vielleicht sogar die höchste aller Film-Auszeichnungen: Es läuft zur Zeit rund für Louise Archambaults Liebesdrama „Gabrielle - (K)eine ganz normale Liebe“, das bei der Oscar-Verleihung 2014 für Kanada ins Rennen um die begehrte Trophäe für den Besten nicht-englischsprachigen Film geht. „Gabrielle“ eröffnete auch das Filmfest Hamburg 2013 und sorgte in der Hansestadt für ausnahmslos positive Publikumsreaktionen – was macht ihn also aus, den Reiz von „Gabrielle“? Es ist nicht nur die überragende Hauptdarstellerin Gabrielle Marion-Rivard, die wie ihre titelgebende Filmfigur das Williams-Beuren-Syndrom hat und sich bei ihrem Leinwand-Debüt mit ihrem sympathisch-unbekümmerten Naturell in die Herzen des Publikums spielt, denn „Gabrielle“ hat noch viele weitere Stärken: Archambault inszeniert eine rührende, aber nie rührselige Liebesgeschichte zweier Menschen mit geistiger Behinderung, die durch die Musik zueinanderfinden und sich am liebsten nie wieder loslassen möchten.
Die geistig behinderte Gabrielle (Gabrielle Marion-Rivard), eine junge Frau von ansteckender Lebensfreude, hat eine große Leidenschaft: die Musik. Jede Woche geht sie zur Chorprobe in einem Freizeitzentrum und trifft dort den ebenfalls sangesbegeisterten Martin (Alexandre Landry), in den sie sich unsterblich verliebt. Zwar erwidert Martin, der als Hilfskraft in einer Tierhandlung arbeitet, ihre Gefühle, doch gestaltet sich eine Beziehung für das unzertrennliche Paar schwierig: Eine gemeinsame Wohnung kommt aufgrund ihrer mangelnden Selbständigkeit nicht in Frage. Martins Mutter (Marie Gignac) sieht das Techtelmechtel gar mit so großem Argwohn, dass sie ihrem Sohn den Kontakt zu Gabrielle verbietet. Gabrielles Schwester Sophie (Mélissa Désormeaux-Poulin), die wichtigste Bezugsperson in ihrem Leben, sieht die junge Liebe entspannter, versucht der sturen Gabrielle aber klar zu machen, dass eine gemeinsame Wohnung mit Martin zu früh kommt. Doch als sich die Chorgruppe auf einen wichtigen Auftritt mit dem kanadischen Starsänger Robert Charlebois (Robert Charlebois) vorbereitet, tut Gabrielle alles, um ihre Autonomie unter Beweis zu stellen...
Die regelmäßigen Chorproben, bei denen die Sänger alles in die Waagschale werfen, die kleineren Rückschläge, die auf dem Weg zum großen Auftritt bewältigt werden wollen, und schließlich das große Bühnenfinale vor Tausenden von Fans: Die Geschichte, die Regisseurin und Drehbuchautorin Louise Archambault („Familia“) erzählt, erinnert zunächst an einen am Reißbrett entworfenen Musikfilm, bei dem am Ende alle Hindernisse überwunden werden können. Doch weit gefehlt: Das gemeinschaftliche Hinarbeiten auf das große Ziel, den Festivalauftritt mit Starsänger Charlebois, bildet in „Gabrielle“ zwar den erzählerischen Rahmen, drückt der Handlung aber nicht die altbekannte Dramaturgie auf. Exemplarisch zeigt sich dies in dem Moment, in dem Charlebois auf der Bühne die ersten Zeilen anstimmt und die Chorsänger tief Luft holen, um die ersten Background-Vocals beizusteuern: Gabrielle und Martin, die sich seit Wochen auf diesen großen Tag gefreut und entsprechend in Schale geworfen haben, haben den großen Auftritt glatt verschwitzt. Stattdessen erleben sie in einer abgeschiedenen Ecke des Festivalgeländes gemeinsam ihr erstes Mal.
Archambault räumt der Liebesgeschichte ausreichend Raum ein und arbeitet die Gefühle, die sich zwischen Gabrielle und Martin entwickeln, liebevoll und mit gutem Gespür für ihre Figuren aus. Dabei setzt sie vor allem im Mittelteil des Films auch auf humorvolle Zwischentöne und umschifft so gekonnt die Gefahr, „Gabrielle“ in den Kitsch abdriften zu lassen. Zudem stellt die kanadische Filmemacherin immer wieder ihren inszenatorischen Facettenreichtum unter Beweis: In mehreren Schlüsselmomenten setzen zum Beispiel Musik und Ton komplett aus, so dass der Zuschauer zunächst einen Fauxpas des Filmvorführers vermutet, aber schnell merkt, dass die Bilder durch die fehlenden Geräusche eine noch gewaltigere Intensität entwickeln. Diese mucksmäuschenstillen Momente harmonieren zudem glänzend mit den wiederkehrenden Schwimmszenen, in denen Gabrielle gedankenverloren auf dem Rücken durchs Becken treibt und ihre Ohren dabei unter die Wasseroberfläche gleiten lässt.
Auch Kameramann Mathieu Laverdière („Nuit #1“) leistet erstklassige Arbeit: Oft filmt er das Geschehen über Gabrielles Schultern hinweg und schafft damit eine noch subjektivere Perspektive, um sie schon im nächsten Moment allein und verloren auf den Gehsteigen von Quebec zurückzulassen. Bei den Liebesszenen und Streitgesprächen hingegen saugt sich Laverdières Kamera förmlich an den Gesichtern der Protagonisten fest, ohne dabei aber aufdringlich zu wirken. Die Besetzung ist durch die Bank überzeugend, die gehandicapten Chorsänger haben sichtlich Spaß am Film und erobern die Herzen des Publikums – sowohl im Film als vermutlich auch bald in den Kinosälen – im Sturm. Eine Darstellerin überstrahlt sie dabei alle: Die fantastisch aufspielende Gabrielle Marion-Rivard, mit der der Zuschauer leidet, fühlt und auf eine Zukunft mit Martin hofft, aber doch genau weiß, dass sich Gabrielles Traum von der gemeinsamen Wohnung mit ihrem Freund so schnell nicht erfüllen wird.
Fazit: Louise Archambaults erzählt in ihrem kanadischen Oscar-Beitrag „Gabrielle - (K)eine ganz normale Liebe“ eine rührende, angenehm unkonventionelle Liebesgeschichte. Die am Williams-Beuren-Syndrom leidende Hauptdarstellerin Gabrielle Marion-Rivard besticht dabei mit einer herausragenden Leistung.