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    Die Wolken von Sils Maria
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Die Wolken von Sils Maria
    Von Andreas Staben

    Seit den Tagen als die „Cahiers du Cinéma“-Clique um François Truffaut, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Eric Rohmer und Claude Chabrol Ende der 1950er Jahre vom Kritikerschreibtisch hinter die Kamera wechselte und als Teil der berühmten Nouvelle Vague für Furore sorgte, kommt es vor allem in Frankreich immer wieder vor, dass schreibende Kinoenthusiasten ihrem Beispiel folgen. Von Bertrand Tavernier („In The Electric Mist“) über André Téchiné („Wilde Herzen“) bis zu jüngeren Filmemachern wie Christophe Honoré („Chanson der Liebe“) und Mia Hansen-Løve („Jugendliebe“) – sie alle haben vor ihrer Regie-Karriere als Journalisten die Arbeit der späteren Kollegen beurteilt. Auch Olivier Assayas verfasste einst Kritiken, ehe er seine eigene Cineasten-Laufbahn startete. Einer seiner ersten wichtigen Filme war Téchinés „Rendez-Vous“ von 1985, bei dem er als Co-Drehbuchautor in Erscheinung trat. Die Hauptrolle spielte damals die junge Juliette Binoche. Fast 30 Jahre später übernimmt die längst zum internationalen Star aufgestiegene Oscar-Preisträgerin (für „Der englische Patient“) auch in Assayas‘ vielschichtigem Drama „Die Wolken von Sils Maria“ den Part der Protagonistin. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Kristen Stewart macht sie die souverän inszenierte und brillant geschriebene Geschichte über die Merkwürdigkeiten des Kulturbetriebs, die Geister der Vergangenheit und die Fallstricke der Wahrnehmung zu einer schauspielerischen Sternstunde.

    Die französische Schauspielerin Maria Enders (Juliette Binoche) ist mit dem Zug nach Zürich unterwegs, dort soll sie stellvertretend für den scheuen Schriftstellerfreund Wilhelm Melchior einen Preis entgegennehmen. Begleitet wird sie von ihrer persönlichen Assistentin Valentine (Kristen Stewart), die sich mit zwei Smartphones bewaffnet um Marias Termine und Verpflichtungen kümmert. Noch bevor die beiden allerdings ihr Ziel erreichen, erfahren sie, dass Melchior unerwartet verstorben ist. Am Rande der zur Gedenkveranstaltung verwandelten Ehrung trifft Maria den jungen deutschen Regisseur Klaus Diesterweg (Lars Eidinger), der sie überzeugen will, bei seiner Neuinszenierung von Melchiors Stück „Maloja Snake“ mitzuwirken. Mit diesem Drama über die turbulente Beziehung zwischen der Geschäftsfrau Helena und ihrer eine Generation jüngeren Angestellten Sigrid hatte Maria als 18-Jährige ihren Durchbruch auf der Bühne und im Kino gefeiert. Diesmal soll sie allerdings den Part der Älteren übernehmen, während für ihre einstige Rolle der aufstrebende Hollywood-Star Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) engagiert wurde. Maria wird von Zweifeln geplagt und zieht sich mit Val in Melchiors Haus in Sils Maria im Engadin zurück, um das Stück zu proben...

    Das vieldeutige Spiel mit verschiedenen Ebenen ist eines der wesentlichen Kennzeichen von Olivier Assayas‘ Kino, in dem Geschichtenerzähler steckt weiterhin etwas von dem analytischen Geist des Kritikers. So verschränkte er einen Thriller wie „Demonlover“ mit einer elaborierten, aber nie schwerfälligen Medienreflexion, verband in „Irma Vep“ den Blick hinter die Kulissen einer zeitgenössischen Filmproduktion mit fantastischen Fluchten in die Kinogeschichte und machte aus einer Coming-of-Age-Geschichte wie „Die wilde Zeit“ gleichzeitig so etwas wie ein zeithistorisches Dokument. Und so hat umgekehrt auch Assayas' episches Terroristenporträt „Carlos – Der Schakal“ neben einer globalen Dimension mit der schier endlosen Hatz über die Kontinente und dem Sprachengewirr etwas ganz Intimes und Persönliches. In „Die Wolken von Sils Maria“ wird die Mehrdeutigkeit nun zum erzählerischen Hauptmotiv und zur dramaturgischen Triebfeder. Kristen Stewarts Val spricht es aus, wenn sie bei der Probe mit Maria darauf insistiert, dass die Bedeutung eines Texts auch von der Perspektive des Betrachters abhängt - und wie zum Beweis multipliziert Assayas die Sichtweisen und Erzählebenen. Das Schönste dabei ist, dass all das keineswegs angestrengt oder gewollt wirkt, sondern überaus abwechslungsreich präsentiert wird und sich ganz selbstverständlich entfalten kann.

    Von den köstlichen YouTube-Videos mit den Eskapaden des Jungstars Jo-Ann Ellis, die man jederzeit für echt halten würde, wenn es nicht um eine fiktive Figur ginge, über die routinierten Ausweichmanöver eines von Paparazzi gejagten heimlichen Promi-Paares bis zu den halb amüsierten, halb befremdeten Google-Recherchen von Maria, die als Star alter Schule diesen neuen Phänomenen skeptisch gegenübersteht – Assayas ist auf der Höhe der Zeit. Er wirft nicht etwa einen zynischen Blick auf die Auswüchse der Starkultur wie David Cronenberg in „Maps To The Stars“, sondern interessiert sich für die menschlichen Konsequenzen der Veränderungen, wenn beispielsweise der Tod eines vertrauten Menschen schon nach wenigen Minuten im Radio kommentiert werden muss. Für Jo-Ann ist diese völlige Vereinnahmung ganz selbstverständlich und sie spielt selbstbewusst auf der medialen Klaviatur –  Chloë Moretz („Kick-Ass“) erscheint hier als frühreif-manipulative Instinktschauspielerin, was sich auch in Jo-Annes Rolle als Sigrid spiegelt, die in Melchiors Zwei-Personen-Stück die treibende Kraft ist. Diese Rolle hat Maria immer als die ihre empfunden und sie gerät in eine Art Identitätskrise, als ihr gesagt wird, dass sie nun den Part der Älteren, der Getriebenen und der schließlich links liegengelassenen Helena einstudieren soll. Ihr Kampf mit diesen ganz persönlichen Ängsten ist der rote Faden, der die drei Teile des Films verbindet. Zwischen dem Auftakt mit der brillant gefilmten Zugfahrt und einem längeren Epilog in London, wo das Stück aufgeführt wird, geht es für den Hauptteil in die Engadiner Berge.

    Das Verhältnis zur Zeit, zur Gegenwart um einen herum genauso wie zu den Phantomen der Vergangenheit und zum eigenen Alter bestimmt diesen zentralen Teil des Films. In der Landschaft, in der sich auch schon Nietzsche wohlfühlte, proben Maria und Val Melchiors Text und dabei weiß man manchmal nicht mehr, ob sie die Rollen spielen oder doch von sich selbst sprechen. Die Ebenen fließen immer wieder ineinander und oft geht es dann auch eigentlich um Kristen Stewart und um Juliette Binoche. Als sie sich gemeinsam Jo-Anns neuesten Science-Fiction-Blockbuster im Kino anschauen (Assayas inszeniert dafür eine tolle fiktive Szene), findet  Maria das alles ziemlich lächerlich, während Val den Kinohit ganz ernst nimmt und ihm tiefgründige Bedeutungen zugesteht – hier könnte auch die Hauptdarstellerin der „Twilight“-Filme über ihre berühmte Rolle sprechen. Das famose Schauspielduett der Generationen, das zwischendurch zum Duell wird, ist das Herzstück dieses Films. Hier zeigt sich die Klasse der beiden Darstellerinnen und „Die Wolken von Sils Maria“ wird zur Liebeserklärung des Regisseurs an ihre Kunst. Wie flüchtig Zeit und Kunst indes sind, das zeigt er uns, indem er seine Erzählung ganz offen und ohne dramaturgischen Fluchtpunkt anlegt: Hier können Figuren auch einfach in den Bergen von Sils Maria verschwinden. Denen wiederum setzte schon 1924 Arnold Fanck mit seinem Stummfilm „Das Wolken-Phänomen von Maloja“ ein Denkmal und wenn Assayas dessen majestätische Bilder hier einbaut, dann sind der Filmliebhaber und der Filmemacher, Emotion und Reflexion aufs Glücklichste vereint.

    Fazit: Olivier Assayas‘ „Die Wolken von Sils Maria“ ist ein amüsanter Blick hinter die Kulissen des Kulturbetriebs, eine geistreiche Reflexion über Zeit und Wahrnehmung sowie vor allem grandioses Schauspielerinnenkino.

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