Das Wetter ist bei den Filmfestspielen von Berlin Jahr für Jahr ein Thema, schließlich findet dieses Gipfeltreffen der Kinowelt im kalten deutschen Februar statt und gefroren wird immer. 2015 ist die winterliche Hauptstadt zwar teils mit einer dünnen Schneedecke überzuckert, aber die Temperaturen sind moderat - kein Vergleich zur „arktischen Berlinale 2010“, als vor Kälte bibbernde Stars reihenweise auf glattem Geläuf ausrutschten. Noch einmal deutlich frostiger geht es im diesjährigen Eröffnungsfilm „Nobody Wants The Night“ zu, in dem die Heldin bis an den Rand des Nordpols geführt wird. Das historische Abenteuer-Drama von Isabel Coixet („Das geheime Leben der Worte“) erweist sich dabei als zäher Festivalauftakt. Die Geschichte einer starken Frau krankt ausgerechnet an der Figurenzeichnung, die eigensinnige Protagonistin bleibt einem fremd und seltsam unzugänglich; ihr Verhalten wirkt mal unverständlich, mal einfach unsympathisch. Und so kann sich der wintergeplagte Zuschauer auch an diesem gediegenen existentialistisch-minimalistischen Kammerspiel-Drama trotz einiger hübsch-majestätischer Bilder nur schwer erwärmen.
1908: Josephine Peary (Juliette Binoche) hat als Angehörige der New Yorker Upperclass keine materiellen Sorgen, vermisst aber ihren heroisch angehimmelten Mann Robert und will ihm unbedingt nah sein. Der Abenteurer versucht gerade mit einer Expedition, als erster Mensch den geografischen Nordpol zu erreichen. Gegen den ausdrücklichen Rat des erfahrenen Treckführers Bram (Gabriel Byrne) und der einheimischen Inuit zwingt Josephine ihre angestellten Untergebenen dazu, vom kanadisch-arktischen Archipel Ellesmere Island aus Richtung Nordpol aufzubrechen, um den geliebten Robert auf dessen mutmaßlicher Rückreise abzupassen. Doch das Unternehmen steht unter keinem guten Stern. Erst werden einige Schlittenhunde von einer Lawine verschüttet, wenig später erwischt es auch noch den Anführer Bram. Als Josephine in einer Hütte Schutz vor dem arktischen Winter sucht, hat sie nur noch die Einheimische Allaka (Rinko Kikuchi) an ihrer Seite. Zwei Welten prallen aufeinander…
„Nobody Wants The Night“ basiert auf realen Lebensgeschichten. Die US-Amerikanerin Josephine Peary (1863 - 1955) überwinterte tatsächlich als erste Frau in der Arktis und avancierte nach ihrem Abenteuer zu einer gefragten Schriftstellerin und Forscherin, während ihr Mann Robert E. Peary (1856 - 1920) zeitlebens darum ringen musste, Anerkennung für seine vermeintliche Nordpol-Begehung zu bekommen - erst neueste Erkenntnisse belegen sein Scheitern endgültig. So steht der Gatte, der im Film nur einen Sekundenauftritt hat, auch aus historischer Sicht deutlich im Schatten der dominanten Josephine. Die erscheint hier als moderne und emanzipierte, aber auch extrem selbstbezogene Frau. Sie wird als affektierte High-Society-Schnepfe eingeführt, die sich ihrer - durch Geld erlangten - Machtposition bewusst ist. Sie verhält sich arrogant und doch naiv, nimmt sich einfach, was sie will. Wenn sie sich daran aufgeilt, einen jungen Eisbären erschossen zu haben oder sich in Pose wirft, egal wer gerade hinschaut, dann hat ihr geradezu krankhaftes Geltungsbedürfnis etwas sehr Heutiges (in unserer Zeit würde sie sich auf Facebook, Instagram, What’s App und Twitter simultan produzieren).
Wenn schließlich durch Josephines Egoismus, der sie unverantwortliche Risiken eingehen lässt, andere Menschen fahrlässig in den Tod gerissen werden, dann dürfte die sperrige Protagonistin selbst beim geduldigsten Zuschauer sämtliche Sympathien verspielt haben. Zwar lernt auch sie spät im Film doch noch ihre Lektion, aber das fühlt sich an wie eine Erzählkonvention und nicht wie die Wandlung eines Menschen aus Fleisch und Blut. So liegt es vornehmlich an der ungleich zugänglicheren Figur der arktischen Ureinwohnerin Allaka, dass es in der zweiten Hälfte des Films doch noch einige berührende Momente gibt. Sie spricht zwar nur rudimentäres Englisch, steuert aber unaufdringliche Weisheit bei. Durch das Aufeinandertreffen der so gegensätzlichen Frauen im Angesicht von extremen Wetterbedingungen und lebensgefährlicher Bedrohung bekommt „Nobody Wants The Night“ auch endlich die innere Spannung, die zuvor so schmerzlich gefehlt hat.
Der existentielle Kampf gegen die wunderschöne, aber lebensfeindlich-grausame Natur ist der deutlich stärkste Teil des Films. Jetzt zählt nur noch das nackte Überleben, der salbungsvolle Off-Erzähler verstummt endlich und auch die Darstellerinnen können sich nun deutlicher profilieren. Oscarpreisträgerin Juliette Binoche („Der englische Patient“) und Rinko Kikuchi („Pacific Rim“, „Babel“) bringen die brisante Gemengelage aus Konkurrenz und Aufeinander-Angewiesen-Sein im Duett der Gegensätze überzeugend auf engstem Raum zum Ausdruck: Josephine und Allaka buhlen um denselben Mann und müssen sich dennoch zusammenraufen, um zu bestehen. Dabei sorgen die völlig unterschiedlichen Kulturkreise der beiden Isolierten für reizvolle Situationen, etwa wenn die New Yorkerin der Inuit-Frau klarmachen will, was Besitz bedeutet – daran knüpfen sich spannende Fragen, die an Lebensentwürfe und Moralvorstellungen rühren, was hier insgesamt viel zu kurz kommt.
Fazit: Isabel Coixets Berlinale-Eröffnungsfilm enttäuscht weitgehend: ein hübsch anzusehendes, aber schwerfälliges Historien-Abenteuer, das erst allzu spät in die Gänge kommt.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2015. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 65. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.