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    Das Cabinet des Dr. Caligari
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Das Cabinet des Dr. Caligari
    Von Ulrich Behrens

    „Eine Spur von Dichtung ist in diesem Film. Dieser Dr. Caligari erfüllt Träume E. T. A. Hoffmanns; er ist der Geheimnisvolle ohne Heimat und Ziel, der immer da ist und dem Menschen die Elixiere des Teufels kredenzt. Ein Dämon ohne Gewolltheit, in jeder Gebärde etwas ungreifbar Schillerndes, in jeder Verbeugung noch ein Schielen nach dem Gift, das in der Rocktasche oberflächlich schlummert. (...)

    Ein Fiebertraum wird bewusst in eine künstlerische Sphäre eingeordnet, die auf ganz neue, unverbrauchte Mittel angewiesen ist, wie ein Fiebertraum wirkte dieser Film, der in wilder Zeit eine Uraufführung erlebte.“ (Rudolf Kurtz, 1926)

    Und tatsächlich ist „Das Cabinet des Dr. Caligari“, dieser zu Weltberühmtheit gelangte deutsche Horrorfilm, eine Art Fiebertraum, ein in expressionistische Kulissen verpackter Alptraum, der durch die Doppelbödigkeit seiner Handlung – einer Rahmenhandlung und einer in sie eingebetteten Geschichte – sein Publikum zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Schein und Sein, Normalität und Wahnsinn – die sich alle verkehren – bei der Uraufführung 1920 einfach verwirren musste.

    Es ist viel darüber spekuliert worden, ob die Rahmenhandlung, die im ursprünglichen Drehbuch von Hans Janowitz und Carl Mayer nicht vorhanden war und die auf eine Idee Fritz Langs zurückgehen soll – der den Film eigentlich drehen sollte, dann aber wegen anderer Verpflichtungen absagen musste –, den primären Gehalt des Films verfälscht habe. Siegfried Kracauer ging sogar so weit, Robert Wiene habe aus einem revolutionären Drehbuch einen konformistischen Film gemacht.

    Worum geht es? (Achtung: Inhaltsangabe enthält SPOILER)

    Der Film erzählt die Geschichte eines (vermeintlichen) Schaustellers, dessen wirklicher Name unbekannt bleibt, der sich Dr. Caligari (Werner Krauss) nennt. Caligari erscheint eines Tages in Holstenwall und bittet gegenüber einem Stadtsekretär um die Erlaubnis, auf dem gerade beginnenden Jahrmarkt auftreten zu können. Caligari will den Schlafwandler Cesare (Conrad Veidt) präsentieren, einen Mann, der angeblich seit 23 Jahren aus seinem Schlaf nicht aufgewacht sei, es sei denn, er, Caligari, habe ihn geweckt. Cesare habe die Fähigkeit, Vergangenheit wie Zukunft irgendeines Menschen zu erzählen bzw. vorauszusagen.

    Noch in der Nacht, nachdem Caligari die Erlaubnis erlangt hat, wird der Stadtsekretär durch einen Unbekannten ermordet.

    Am nächsten Tag erscheinen die beiden Studenten Francis (Friedrich Feher) und Alan (Hans Heinrich von Twardowski), die beide in die schöne Apothekerstochter Jane (Lil Dagover) verliebt sind, in der Vorstellung Caligaris und Cesares. Und Cesare sagt voraus, Alan werde nur noch bis zum Morgengrauen leben.

    Genau dies geschieht: Im Morgengrauen wird Alan erstochen. Francis hegt den Verdacht, der unheimliche Caligari und Cesare seien für die Tat verantwortlich. Und selbst als die Polizei einen Mann (Ludwig Rex) festnimmt, der eine alte Frau ermordet haben soll, aber bestreitet, den Stadtsekretär und Alan umgebracht zu haben, glaubt Francis noch immer an die Schuld Caligaris.

    Eines Nachts dringt Cesare tatsächlich mit einem Messer bewaffnet in das Schlafzimmer Janes ein. Statt sie allerdings zu ermorden, entführt er sie. Und nur weil ihn eine aufgebrachte Menge verfolgt, lässt er Jane fallen und flieht erschöpft von dannen. Francis kann nicht glauben, dass der Entführer Cesare war, denn er hat die ganze Nacht heimlich Caligari beobachtet und Cesare in einer Holzkiste liegen sehen. Als die Polizei allerdings Caligari aufsucht, stellt man fest, dass in der Kiste eine Puppe liegt. Caligari flieht, Francis verfolgt ihn – bis zu einer psychiatrischen Anstalt, in der er entdeckt, dass Caligari der Direktor der Anstalt ist. Francis und einige Ärzte entdecken im Zimmer Caligaris ein Buch über Somnambulismus und ein Tagebuch Caligaris. Aus beiden wird klar, dass Caligari den schlafwandelnden Cesare dazu missbraucht hat, die Morde zu begehen, um zu beweisen, dass ein Mensch im Zustand des Somnambulismus Dinge tun kann, die er bei vollem Bewusstsein verabscheuen würde.

    Diese Geschichte erzählt Francis auf einer Bank einem Mann. Diese Bank allerdings steht im Park eben jener Psychiatrie, in der Francis und Jane Patienten sind. Der vermeintliche Caligari erweist sich als gutmütiger Direktor der Anstalt. Die Geschichte erweist sich als Phantasiegebilde des psychisch kranken Francis, während Jane in der Anstalt lebt, weil sie glaubt, eine Königin zu sein.

    Neben allen Spekulationen, Interpretationen usw., die sich um den Film und seine Entstehung ranken, ist zumindest sicher, dass es vor allem drei Dinge waren, die Janowitz und Mayer zu ihrer Geschichte inspirierten: Ein Besuch von Janowitz auf einem Jahrmarkt in Holstenwall, auf dem er einen Mörder gesehen haben will, die Abneigung Mayers gegenüber einem Militärpsychiater und beider Abscheu gegen Kriegsdienst und jegliche Form von Autorität. Dass die oben geschilderte Rahmenhandlung, die in beider Drehbuch nicht enthalten ist, der Geschichte eine völlig andere Wendung gibt, ist sicherlich unumstritten. Ob allerdings Kracauers Interpretation, das ursprüngliche Drehbuch sei revolutionär gewesen und habe im Grunde den Weg zu Hitler vorgezeichnet, heute noch haltbar ist, muss stark bezweifelt werden. Diese Interpretation ist wohl eher auf Kracauers politische Ansichten zurückzuführen als auf die Entstehungsgeschichte des Films selbst.

    Hinzu kommt, dass der Film selbst – von der Handlung her eher ein Krimi mit Horroreffekt – sich vor allem durch seine (tatsächlich revolutionären) neuen Stilmittel im Bereich des Stummfilms auszeichnet, weniger zunächst durch die Geschichte selbst. Maler der expressionistischen Künstlergruppe „Der Sturm” waren für das gesamte Dekor verantwortlich – ein Dekor, das es wirklich in sich hat, ein insgesamt durch „Schiefe” gekennzeichnetes Szenenbild, in dem sämtliche Gegenstände der expressionistischen Malerei angepasst sind. Der Jahrmarkt beispielsweise wird durch zwei Karussells angedeutet, wie auf einer Bühne verteilen sich die Gegenstände im Raum, selbst Straßen, Wege sind nie gerade, geschweige denn Fenster, Häuser oder andere Objekte. Das gesamte Dekor erscheint fast farbig, obwohl der Film in Schwarz-Weiß gedreht wurde und nur in einigen Szenen in Grün-, Blau- und Brauntöne eingefärbt wurde. Selbst Lichteffekte wurden großenteils nicht durch tatsächliches Licht erzeugt, sondern direkt in das Dekor gemalt. Die Akteure bewegen sich in diesem Dekor, als wären sei Teile eines oder mehrerer Gemälde expressionistischer Künstler – nur dass sie sich eben bewegen.

    Es spricht viel dafür, dass Wiene – ein später kaum noch erfolgreicher Regisseur – dem Film insgesamt endlich den Status eines Kunstwerks, gleichberechtigt neben Malerei, Musik oder Theater, verleihen wollte. Denn bis zu diesem Film galt das Kino nicht unbedingt als Teil der Kunst. Das Dekor bewirkte und bewirkt auch aus heutiger Sicht noch etwas anderes: Es ist sozusagen Ausdruck der Seelenlage der Akteure. Gerade bei Caligari selbst, diesem unheimlich, verschlagen, düster und kalt wirkenden, ein Doppelleben führenden Irren und Irrenarzt, und bei Cesare, mit dunkel unterlaufenden Augen und fahlem Gesicht, unterstützt das Dekor deren Verfasstheit, deren mysteriöse Attitüde. Unterstützt wird dies noch durch die Zwischentitel, die in blitzförmigen, eckigen großen Buchstaben präsentiert werden, oder auch durch die Schriftzüge, die an einer Stelle eingeblendet und über die gesamte Leinwand verteilt werden, als der Irrenarzt endlich ganz zu Caligari werden will (wie der vermeintlich historische Caligari, der 1703 sein Unwesen getrieben haben soll).

    Die Rahmenhandlung, die dem Publikum gewahr werden lässt, dass die Geschichte, die es da gerade präsentiert bekommen hat, der Phantasie eines Wahnsinnigen (Francis) entspringt, ist – im Gegensatz zu Kracauers Meinung – gerade der Clou des Films. Anton Kaes formulierte dies folgendermaßen:

    „Es ist genau diese prinzipielle Ambiguität und Doppelbödigkeit, die den Film vor anderen auszeichnet und ihn zu einem Exempel der

    selbstreflexiven filmischen Moderne gemacht hat. Denn indem der Film offenlässt, was Halluzination und was Wirklichkeit ist, spiegelt er

    Eigenschaften eines Mediums, das beim Anschein größtmöglicher Naturnähe essentiell auf Illusion und Sinnestäuschung beruht. Caligaris

    Zuschauer sitzen in seinem Zelt wie die Zuschauer im Kinosaal. Das Cabinet ist nichts anderes als das Kino selbst.“ (1)

    Es ist diese Phantasiewelt, dieses „Unrealistische”, diese Kunstwelt und Künstlichkeit, die sich von der Wirklichkeit abgesetzt hat, aber eben trotzdem einen Bezug zur Realität wahrt, die Kunst eben auszeichnet. Würde man an Kunst den Anspruch erheben, „realistisch” zu sein, würde man sie ihrer Existenzberechtigung vollends berauben. „Caligari” zeigt zum ersten Mal in einer die Leinwand total einnehmenden Weise das Innenleben eines Menschen (Francis), der in einer Phantasiewelt lebt. Gerade hierin liegt eben – neben dem phantastischen Dekor – die enorme Bedeutung des Films, die ihn im übrigen zu einer Art Initialzündung für weitere deutsche Filme in den 20er Jahren werden ließ. Man sehe „Metropolis” (1927), denke an „Nosferatu” (1922) oder „Dr. Mabuse, der Spieler” (1922). „Caligari” wirkte aber weit darüber hinaus – man denke etwa an Filme wie Finchers „Fight Club” (1999) oder David Lynchs „Lost Highway” (1996) oder auch James Mangolds „Identität” (2003).

    Caligari „ist etwas ganz Neues. Der Film spielt – endlich! endlich! – in einer völlig unwirklichen Traumwelt.” (Kurt Tucholsky)

    Es ist gerade diese Traumwelt, die das Substantielle des Kinos, das Eingemachte seiner Erzählungen – abseits allen „Realismus” – ausmacht. Selbst sog. „realistische” Filme leben in erster Linie von der Phantasie, nicht von einem falsch verstandenen Realitätssinn. Der Film erhebt die Phantasie, die Traumwelt, das Manische, das Depressive, das Irrationale und Unwirkliche zum zentralen Ort des Kinos. Während zunächst in der erzählten Geschichte im Film das Wahnsinnige als normal erscheint und das Normale als Wahnsinn, verkehrt sich dies zum Schluss durch die Rahmenhandlung. Zugleich aber hat „Caligari“ auch etwas, das stark an die Romantik erinnert, an jene Märchen und Sagen, den Alptraum, das Heimatlose, wie Kurtz es nannte, das Ruhelose – und das alles in einer Zeit kurz nach der sog. Novemberrevolution, in der die alten Mächte abtreten mussten und dennoch mehr oder weniger heimlich und auf Schleichwegen wieder in die Machtzentralen aufrückten. Hier hat der Film – allerdings nicht wie in der Interpretation Kracauers – vielleicht auch einen Realitätsbezug.

    (1) Anton Kaes: Film in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans-Helmut Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films, Stuttgart / Weimar 1993, S. 39-10 hier: S. 47 f.

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