Mein Konto
    Die langen hellen Tage
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die langen hellen Tage
    Von Katharina Granzin

    Die erdige Farbigkeit der Bilder wirkt, als läge ein sepiafarbener Erinnerungsfilter über dem ersten gemeinsamen Spielfilm des georgisch-deutschen Regiepaares Nana Ekvtimishvili und Simon Groß. Diese Anmutung ist kein Zufall, denn Ekvtimishvili, die auch das Drehbuch verfasste, hat in „Die langen hellen Tage“ Erlebnisse ihrer Teenagerjahre im postsowjetischen Georgien der 90er Jahre verarbeitet. Ihr Film erzählt von der Freundschaft zweier Mädchen und von deren Leben zwischen Schule, Familie und ersten Liebschaften. Es ist ein Leben, das von alltäglicher zwischenmenschlicher Gewalt geprägt ist. Die Menschen haben jedoch mit dieser zu leben gelernt, da sie sämtliche Lebensbereiche ganz und gar durchdrungen hat. Auch der Film mit seiner nicht wertenden, beobachtenden Erzählhaltung verurteilt die ganz normale Brutalität des Lebens nicht, sondern nimmt sie als gegeben hin. Die Härten des Alltags in der georgischen Kleinstadt, in der sogar das Anstehen nach zwei Laiben Brot zu einem Kampf werden kann, wird in der erdfarbenen Bildwelt des Films zu einer melancholischen und dabei doch federleichten Erzählung über die Rauheit des Daseins.

    Eka (Lika Babluani) und Natia (Mariam Bokeria) sind beste Freundinnen. Eka lebt mit ihrer meist abwesenden Mutter und ihrer älteren Schwester zusammen; ihr Vater sitzt im Gefängnis. Doch auch wenn sich zu Hause niemand wirklich für Eka interessiert, hat sie es doch leichter als Natia, deren Vater Alkoholiker ist und die Mutter regelmäßig schlägt. Die bildhübsche Natia gefällt vielen jungen Männern. Bevor er nach Moskau geht, um dort zu arbeiten, schenkt ein Verehrer ihr eine Pistole, damit ihr nichts passiere. Natia drängt Eka die Waffe auf, damit diese sich gegen einen großen Jungen verteidigen kann, der sie auf dem Nachhauseweg regelmäßig bedrängt. So steht sie ihr selbst nicht zur Verfügung, als sie eines Tages beim Anstehen in der Brotschlange von einem anderen Verehrer entführt und praktisch zur Heirat gezwungen wird. Und obwohl Natia sich einredet, ihren Ehemann zu lieben, steht die Verbindung unter keinem guten Stern.

    Es ist im Grunde Stoff für ein großes, tragisches Drama, den Ekvtimishvili und Groß verfilmt haben. Doch haben sie aus diesem Stoff etwas ganz anderes gemacht; haben ihn fein versponnen zu einem fast impressionistisch anmutenden Sittengemälde. Mit einem großen ästhetischen Gespür und nicht zuletzt einem sicheren Instinkt für das tragikomische Moment im Tragischen folgen sie ihren Protagonistinnen bei ihren alltäglichen Gängen. Dabei entstehen Bilder von großer Schönheit. Eine verlassene Straße im strömenden Regen, eine dunkle Wohnung, das offene Fenster der Wohnung, vor dem die heranwachsenden Mädchen ihre Zusammenkünfte abhalten: Alles erscheint auf geheimnisvolle Weise zu ästhetischer Zeichenhaftigkeit überhöht. Sogar die allgegenwärtigen, unübersehbaren Zeichen von Vernachlässigung und Verfall – die abblätternde Farbe an den Türen im Mädchenklo der Schule, die verfallenen, grauen Häuserfassaden der kleinen Stadt – erscheinen nicht als Ausdruck existenzieller Tristesse, sondern gleichsam als hintergründiges Symbol für den großen, unerschütterlichen Selbstbehauptungswillen der jungen Heldinnen in einer harschen Umgebung. Das Coming-of-Age von Eka und Natia wird darin bestehen, sich dem ewigen Kreislauf der Gewalt endgültig zu verweigern. Auch diese revolutionäre Entscheidung zeigt der Film in schöner poetischer Beiläufigkeit.

    Fazit: „Die langen hellen Tage“ ist ein bildschön fotografierter, poetischer und kluger Film über das Erwachsenwerden zweier Mädchen im Georgien der 90er Jahre und den Mut zur Selbstbehauptung in einer Umgebung, in der sich immer der Stärkere durchsetzt.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top