Bei den Berliner Filmfestspielen 2013 verlieh die Jury dem kanadischen Sozialdrama „Vic & Flo haben einen Bären gesehen“ den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet. Den Mut zu neuen Perspektiven und einen künstlerischen Anspruch mag man Denis Côtés eigenwilligem Werk kaum absprechen, doch einen guten Film macht das noch lange nicht: Mit narrativem Minimalismus und ohne echte Spannungsmomente steuert der Filmemacher auf einen blutigen Schlussakkord zu, der in seiner Brutalität zwar durch Mark und Bein geht, aber nur bedingt mit der dialoglastigen Grundausrichtung der Geschichte harmonieren will.
Die zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilte Victoria (Pierrette Robitaille) wird auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Gemeinsam mit ihrer Geliebten Florence (Romane Bohringer), die ihr angeblich in all den Jahren hinter Gittern die Treue gehalten hat, sucht sie in der Abgeschiedenheit der kanadischen Wälder nach Ruhe und quartiert sich in der Hütte ihres stummen und nach einem Schlaganfall gelähmten Onkels Emile (Georges Molnar) ein, der bis dato vom Nachbarsjungen Charlot (Pier-Luc Funk) und dessen Vater Nicolas (Olivier Aubin) gepflegt wurde. Nicht nur der misstrauische Nicolas sieht die neuen Waldbewohner kritisch: Auch der unorthodox arbeitende Bewährungshelfer Guillaume (Marc-André Grondin) stattet Vic und Flo regelmäßige Besuche ab, um den Lebenswandel seiner Klientin zu überprüfen und zu dokumentieren. Zunächst scheint Vic und Flo die Idylle gut zu tun, doch Flo fühlt sich in der Hütte zunehmend eingeengt: Sie unternimmt ausgedehnte Ausflüge in einem Caddy-Wagen und ist in den Bars der Umgebung ein vielgesehener Gast. Und spätestens, als die freundliche Nachbarin Marina St-Jean (Marie Brassard) bei Vic aufschlägt und ihr bei der Gartenarbeit zur Hand geht, zieht weiteres Unheil herauf...
Der kanadische Filmkritiker Denis Côté, der seit 2005 auch als Regisseur tätig ist, widmete sich 2012 in der essayistischen, teilweise sperrigen aber sehenswerten Dokumentation „Bestiaire“ der Haltung von Zootieren. In seinem neuen Spielfilm Vic & Flo haben einen Bären gesehen“ konzentriert er sich nun auf das menschliche Gefangensein und schlägt dabei einen lakonisch-trockenen Tonfall an: Während Vic nach der Knastentlassung den Rest ihres Lebens in der von Guillaume überwachten Hütte in der Einöde verbringen möchte, sucht die deutlich jüngere Flo nach neuen Abenteuern, die sie in der trügerischen Idylle der Provinz nie finden wird. Es dauert nicht lange, bis Flo ihre Geliebte bei einem Ausflug in die örtliche Bar mit einem ebenfalls liierten Afro-Kanadier (Ted Pluviose) betrügt und dem Zuschauer klar wird, dass Vic und Flo wohl keine gemeinsame Zukunft haben. Côté konzentriert sich aber nicht auf diese zum Scheitern verurteilte Liebe der beiden ungleichen Frauen und verzettelt sich dabei in einem zweifellos mutigen, aber viel zu sperrigen Indie-Film.
Côté kreuzt die lesbische Problembeziehung mit einer undurchsichtigen Rachegeschichte: Warum genau es der skrupellose Racheengel Jacky (Marie Brassard) und ihr hünenhafter Handlanger (Ramon Cespedes) auf Flos Gesundheit abgesehen haben, bleibt ebenso nebulös wie Vics kriminelle Vorgeschichte, die ihr die lange Zeit hinter Gittern eingebracht hat. Die beiden Frauen bleiben dem Zuschauer bis zum Ende fremd, eine Identifikation mit zumindest einer der Hauptfiguren kann so kaum stattfinden. Vieles an Côtés Geschichte muss der Zuschauer sich hinzudenken: Das hätte bei einem Verwirrspiel mit doppelten Böden eine prickelnde Angelegenheit werden können, mündet hier aber meist in gähnender Langeweile. Jackys Eintreffen bringt zwar Dynamik ins Geschehen, doch Côté verliert ihren eiskalten Racheakt immer wieder aus den Augen und schickt Flo und Guillaume stattdessen auf einen ausgedehnten Ausflug, bei dem die beiden bei einer Portion Pommes die Homosexualität des Bewährungshelfers diskutieren. Auch der pflegebedürftige Emile, der unbeteiligt im Rollstuhl herumsteht und als Stein des Anstoßes für eine konstruierte Nachbarschaftsfehde herhalten muss, bringt die Geschichte keinen Deut voran.
So ist es vor allem der überraschend brutale Schlussakkord, der auch nach dem Abspann noch lange im Gedächtnis bleibt: Ein Bär tritt dabei zwar nicht in Erscheinung, stattdessen aber ein halbes Dutzend ausgelegter Bärenfallen, deren knirschendes Zuschnappen die Geschichte dramatisch und blutig ausklingen lässt. Auch hier verzichtet Côté, der im Laufe der gut eineinhalbstündigen Spielzeit lediglich einige befremdliche Bongotrommel-Rhythmen erklingen, Jackys Handlanger ein paar Gitarrenakkorde und einen untalentierten Schuljungen ein paar schräge Trompetentöne anstimmen lässt, auf den Einsatz von spannungsfördernder Filmmusik und rückt so gekonnt die erschütternden menschlichen Klagelaute, die im Laufe des Leidens immer leiser werden, in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Die mysteriöse Atmosphäre, die sich mit Eintreffen des Bewährungshelfers und des argwöhnischen Nachbarn Nicolas wie ein roter Faden durch den Film zieht, gipfelt schließlich in einer surrealen Schlusspointe, die den Mikrokosmos der kanadischen Wälder endgültig zur Kunstwelt stilisiert und Realität und Fiktion miteinander verschmelzen lässt.
Fazit: Denis Côtés dialoglastiges Sozialdrama „Vic & Flo haben einen Bären gesehen“ ist ausgefallen und mutig, aber selten wirklich fesselnd. Wenngleich die beiden Protagonistinnen sich eine ganze Menge zu sagen haben, lässt ihr Schicksal letztlich kalt.