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    Wolfskinder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wolfskinder
    Von Thomas Vorwerk

    Der sogenannte Wolfskinder-Geschichtsverein definiert „Wolfskinder“ als „anhanglose deutsche Kinder und Jugendliche, die nach 1945 dem drohenden Hungertod im nördlichen Ostpreußen zu entgehen versuchten und dabei (vor allem in Litauen) in 'außerdeutsche Zusammenhänge' gerieten und ihre Herkunft durch die Annahme einer neuen Identität zeitweise oder gar dauerhaft verschleiern mussten“. Rick Ostermann lässt in seinem kraftvollen Drama über die Schicksale einige dieser „Wolfskinder“ die historischen Details größtenteils im Hintergrund und schildert den Kampf ums Überleben ganz aus der Perspektive der Kinder.

    Sommer 1946: Der 14-jährige Hans (Levin Liam) und sein etwas jüngerer Bruder Fritz (Patrick Lorenczat) schlagen sich unerschrocken und mit teilweise drastischen Mitteln durch die Nachkriegswirren. Auf dem Sterbebett verspricht Hans der Mutter (Jördis Triebel), auf den Bruder acht zu geben und sich mit ihm über die Memel ostwärts nach Litauen durchzuschlagen, wo eine Bäuerin sich bereit erklärt hat, sie aufzunehmen. Der Anführer ist hierbei zunächst das kleine „Fritzchen“, doch bei der Flussüberquerung, die durch zwei von russischen Soldaten verfolgte Mädchen dramatisiert wird, treibt der Nichtschwimmer unter Beschuss in der starken Strömung ab und Hans schlägt sich fortan mit der gleichaltrigen Christel (Helena Phil) und ein paar jüngeren Kindern im Schlepptau durch. Dabei hegt er die Hoffnung, Fritzchen wiederzufinden.

    Die größte Stärke des bereits auf mehreren Festivals (u.a. Venedig, Chicago, Trondheim) aufgeführten Debüt-Spielfilms liegt in der visuellen Erzählkunst, die Regisseur Rick Ostermann beweist. Lange Zeit gibt es gar keine Dialoge, die verdreckten Kindergesichter erzählen ihre Geschichten zumeist durch Blicke. Auch mit der in vielen Filmen oft typischen Informationsvergabe, bei der Figuren sehr schnell „wie nebenbei“ namentlich vorgestellt werden, bricht der als Regieassistent unter Matthias Glasner („This Is Love“) und Lars Kraume („Die kommenden Tage“) gereifte Ostermann: Den Namen einiger der Kinder erfährt man im Film erst dann, wenn sie „auf der Strecke bleiben“ oder sich anders aus der Haupthandlung verabschieden.

    Trotz des historischen Hintergrunds wirkt „Wolfskinder“ dabei eher wie eine Endzeit-Vision. Hans und Christel sprechen einmal etwa über den Wunsch, das Meer (wieder) zu sehen, und auch das Reiseziel der Odyssee, der quasi utopische (im Sinne von „Nicht-Ort“) Bauernhof in Litauen, kommt einer vagen Durchhalteparole wie in Cormac McCarthys, von John Hillcoat mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle verfilmten Romanklassiker „The Road“ gleich. Während die Erwachsenen in dieser Welt fast durchweg bedrohlich wirken (sie haben Gewehre, hetzen Hunde auf die Kinder oder haben ihre ganz eigenen, oft unmenschlichen Motivationen), geht es vor allem um die erzwungenen Handlungen der Protagonisten, die im Kampf ums nackte Überleben auch nebenbei die „Kindheit“ hinter sich lassen müssen. Während die Natur oft noch idyllisch dargestellt wird, pflückt man Blaubeeren, stiehlt und bettelt, doch mit einem „Kinderspiel“ hat dies schnell nichts mehr zu tun.

    Schon eine frühe Szene verdeutlicht, dass die Kinder hier nicht Kinder bleiben können: Fritzchen stiehlt zielbewusst und ohne Zögern einigen russischen Soldaten ein Pferd. Als Hans mit staunenden Augen das zutrauliche Tier streichelt, schallt ein donnernder Schuss durch die leerstehende Scheune. Fritzchen hat nebenbei auch gleich eine Pistole gestohlen, damit nun das Pferd getötet und macht sich sofort daran, es aufzuschneiden. Er wollte kein Reittier, sondern nur der kranken Mutter mit etwas Fleisch weiterhelfen. Für das eigene Überleben müssen hier oft andere dran glauben, und wenn es sich dabei nur um einen bissigen Hund oder ein gestohlenes Huhn handelt, muss man sich schon glücklich schätzen. Regiedebütant Rick Ostermann reichen auch hier Nuancen, um die Widersprüchlichkeit in dieser Welt zu verdeutlichen. Das Huhn wird kurz vor seinem Tod noch gestreichelt, wodurch der unterdrückte Wunsch der Kinder nach Zärtlichkeit verdeutlicht wird.

    Fazit: Mit wuchtigen emotionalen Bildern erzählt Rick Ostermann ein fast unbekanntes Kapitel Nachkriegsgeschichte. Der Debütregisseur entzieht sich dabei aber willentlich den historischen Details. Diese Entscheidung wird nicht jeden Zuschauer glücklich stimmen, doch wenn man sich darauf einlässt, bietet „Wolfskinder“ packendes Kino.

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