Wir sind es gewohnt, von Geschichtenerzählern – und dazu gehören auch die allermeisten Filmemacher - an die Hand genommen und durch eine nachvollziehbar angeordnete Folge von Ereignissen geführt zu werden: Anders als in der Realität gibt es im Kino normalerweise mehr oder weniger schlüssige Dramaturgien, die schließlich mehr oder weniger eindeutig aufgelöst werden: Jede Szene hat ihren Platz, nichts passiert ohne Grund. Das ergibt Sinn und ist in seiner Verständlichkeit meist ausgesprochen beruhigend. Aber es gibt auch Filmemacher, die verweigern sich dieser Art von Sinnstiftung und pfeffern uns in ihren Werken entgegen, wie furchtbar kompliziert und chaotisch das Leben da draußen verläuft und erzählen davon, wie unerreichbar selbst das bescheidenste Glück für viele Menschen ist. Nanouk Leopold legt mit der Literaturverfilmung „Oben ist es still" ein solches Werk vor, sie konfrontiert uns mit den tristen Seiten des irdischen Daseins und stellt das Elend eines bitter frustrierenden Alltags in den Mittelpunkt. Der Film verlangt seinem Publikum viel ab, tröstlich ist er nicht einmal ansatzweise, sondern eine nahezu nihilistische Darstellung überwältigender Hoffnungslosigkeit – und eine atmosphärisch verdammt intensive Kinoerfahrung.
Tagein tagaus arbeitet der Landwirt Helmer (Jeroen Willems) so hart er kann. Sein bettlägeriger Vater (Henry Garcin) nimmt seine Kraft zusätzlich in Beschlag. Aus reinem Pflichtbewusstsein kümmert er sich um ihn, auch wenn die beiden durch unausgesprochene Vorwürfe voneinander abgeschottet sind. Einst hatte sich Helmer ein Leben abseits des Bauernhofes gewünscht. Nach dem Tod seines Bruders sah er sich jedoch zur Rückkehr und zum Beistand für seinen alternden Vater gezwungen. Seinen Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben hat er damit aufgegeben. So wie sich der Sohn den Tod seines alten Herren wünscht, blickt auch der Vater störrisch dem Tod ins Auge und wartet auf das Ende. Eines Tages schafft Helmer ihn in eine höhere Etage, um das Elend nicht mehr vor Augen zu haben und sein Leben im Erdgeschoss endlich so führen zu können, wie er es lange gewünscht hat. Er fasst Kontakt zur einstigen Verlobten seines verstorbenen Bruders und lässt ihren Sohn im einstigen Zimmer seines Vaters wohnen. Langsam und mit vielen Rückschlägen lernt er das Leben zu führen, das ihm vor Jahren entglitten ist...
Schon ganz zu Beginn, wenn Helmer seinen bettlägerigen Vater in einer erschütternden und nervenaufreibend langen Sequenz in die nächste Etage umbettet und dabei jedes entwürdigende Detail gezeigt wird, ist glasklar, dass „Oben ist es still" ein echtes Anti-Feelgood-Movie ist. Alter und familiäre Entfremdung, das sind Themen, die in der eskapistischen Welt des Mainstream-Kinos gerne verschwiegen werden und selbst in Michael Hanekes „Liebe" nur mit Auslassungen behandelt werden, stehen hier im Mittelpunkt. Das Verhältnis zwischen pflegebedürftigen Eltern und sorgetragenden Kindern ist auf den Gefrierpunkt herabgekühlt. Zu viele offene Rechnungen gibt es hier, die Helmer seinem Vater nun mit kaum verhohlener Brutalität ausstellt. Auch abseits der Pflege ist das Leben des vereinsamten Landwirts ein einziges Jammertal der Selbstaufgabe. Mit einer hochkonzentrierten und sehr körperbetonten Performance bildet Jeroen Willems („Lena") diese tragische Alltagssituation beeindruckend intensiv ab. Mit ein paar exakt gesetzten Gesten zeichnet er einen Mann, dessen Glück wenn überhaupt nur auf Kosten anderer möglich ist.
Henry Garcin („Das wilde Schaf") ist ihm dabei absolut ebenbürtig. Mit mürrischer Mimik portraitiert er einen Greis, der auf dem Totenbett merkt, wie verschenkt und freudlos sein Leben verlaufen ist und der diesen Zustand nur mit wütendem Trotz quittieren kann. Leopold und seine Darsteller beschwören eine ungeheuer dichte Atmosphäre der Tristesse herauf, die nur sehr selten und dann bloß zaghaft durchbrochen wird. Und wenn dann doch mal ein Lichtschein durchs trostlose Grau huscht, ist man gleich misstrauisch, wie lange er sich wohl halten mag. Von Zeit zu Zeit wirkt diese bleierne Schwere, dieses Schwelgen in langen, schmucklosen und erdrückend drögen Einstellungen allerdings fast wie die Parodie eines Arthouse-Dramas der emotional härtesten Gangart. Schweigen, Trauer und schlechte Schwingungen – „Oben ist es still" ist eine wahre Nervenprobe, deren tiefergehende Bedeutung kaum greifbar ist. Ja, viele Menschen erleben Vergleichbares, beschönigt werden muss und soll das nicht. Eine sinnstiftende Auseinandersetzung muss der Zuschauer aber selbst vornehmen, angeboten wird sie ihm von der Regisseurin nicht.
Fazit: Nanouk Leopolds belastendes Drama „Oben ist es still" ist ein in seiner Kompromisslosigkeit beeindruckender filmischer Kraftakt – eine greifbare Antwort darauf, wohin die Anstrengung des Publikums dabei führen soll, bleibt die Regisseurin hier allerdings schuldig.