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    Meine Schwestern
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Meine Schwestern
    Von Björn Becher

    Lars Kraume mag vor allem durch seine Arbeiten am „Tatort“ (zuletzt hat er in Frankfurt in fünf teils hochkarätigen Folgen ein neues Ermittler-Duo etabliert und wieder auseinandergerissen) sowie beim „KDD-Kriminaldauerdienst“ bekannt sein, aber es wäre vorschnell, ihn deshalb als reinen Spannungsspezialisten einzustufen. Schließlich hat der zweifache Grimme-Preisträger („Dunckel“, „Guten Morgen, Herr Grothe.“) schon in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass er über ein erstaunlich weitgefächertes Schaffensspektrum verfügt. Nach seiner faszinierenden, aber kommerziell enttäuschenden Endzeit-Vision „Die kommenden Tage“, mit der er den seltenen Versuch eines deutschen Science-Fiction-Films unternahm, zeugt davon auch Kraumes neuester Kinofilm. In seinem wundervoll melancholischen Familiendrama „Meine Schwestern“ schildet er die Gefühls-Odyssee seiner drei Protagonistinnen an einem Wochenende zwischen Tating an der Nordsee und Paris. Dabei kommt Kraume ganz ohne äußerliche Spannungseffekte aus und setzt stattdessen auf eine unaufgeregte, ruhig fließende Erzählweise. Und gerade dadurch macht er „Meine Schwestern“ gemeinsam mit seinen herausragenden Hauptdarstellerinnen zu einem feinfühlig-vielschichtigen Kino-Kleinod.

    Linda (Jördis Triebel) hat einen angeborenen Herzfehler. Die Ärzte gaben ihr bei der Diagnose nur noch drei Monate, daraus wurden mittlerweile 30 Jahre. Doch in wenigen Tagen steht eine weitere Operation an und Linda fühlt, dass es diesmal die letzte sein wird: Sie ist des Kämpfens müde. Vorher will sie aber noch ein Wochenende mit ihren Schwestern verbringen. Also packt sie die ziellose, jüngere Clara (Lisa Hagmeister) kurzerhand ins Auto und überfällt und bearbeitet die dauergestresste, ältere Katharina (Nina Kunzendorf) so lange, bis auch sie schließlich nachgibt. Gemeinsam reisen sie nach Tating an der Nordsee, wo sie in der Kindheit immer den Familienurlaub verbrachten. Nach einer wilden Nacht geht es zum Entsetzen von Katharina weiter nach Paris. In der französischen Metropole würde Clara gerne ein Studium aufnehmen und dort lebt auch ihre  Lieblingstante Leonie (Angela Winkler), der die drei Schwestern nun einen Besuch abstatten.

    Regisseur Lars Kraume und seine Autorin Esther Bernstorff („Das Fremde in mir“) führen die drei Protagonistinnen mit wenigen deutlichen Pinselstrichen ein: Im Handumdrehen machen sie die mittlere Schwester Linda zum Zentrum der Erzählung und etablieren die jüngste und die älteste, Clara und Katharina, als Gegenpole zueinander. So ist Katharina mit dem Gedanken erwachsen geworden, dass ihre kleine Schwester Linda jederzeit sterben könnte. Das hat sie zu einer harten und disziplinierten Beschützerin werden lassen. Die von früherer Zusammenarbeit genau wie ihre beiden Kolleginnen mit Kraume bestens vertraute Nina Kunzendorf („Tatort“) gibt der Figur ein entsprechend strenges Antlitz mit einem Hauch von Besessenheit: Alles soll so perfekt sein wie ihre trotz zweier kleiner Kinder immer saubere Wohnung und während des Wochenendtrips treibt den Kontrollfreak Katharina die ständige Sorge um, ob diese Reise nicht zu viel für die angeschlagene Linda ist. Clara wiederum stand zeitlebens im Schatten der zwei älteren Schwestern, denn alles hat sich immer nur um die Kranke gedreht. Lisa Hagmeister („Die kommenden Tage“) spielt die jüngste der drei Schwestern als verhuschte Außenseiterin, die sich in ihrer chaotischen Studentenbude regelrecht versteckt und sich, wenn sie doch mal nach draußen geht, in ihrem Parka vergräbt. Ihr Leben ist freudlos und sie würde gern aus ihm ausbrechen, um in Paris Kunst zu studieren.

    Die komplexe Dynamik, die das Verhältnis der drei Figuren kennzeichnet, ist das Herzstück von Kraumes Roadmovie und die von Jördis Triebel („KDD-Kriminaldauerdienst“) mit größter Feinfühligkeit verkörperte Linda ist gleichsam das Barometer für die mal subtil, mal abrupt zwischen Feierlaune und Geschwisterstreit, Freude und Verzweiflung, Lebensmut und Todessehnsucht wechselnden Stimmungen. Dabei nimmt der Regisseur das traurige Ende der Geschichte gleich vorweg und lässt seinen Film in einem Leichenschauhaus beginnen. Es handelt sich also tatsächlich um Lindas allerletzten Wochenendausflug, dennoch verfällt Kraume nie in kitschige Sentimentalität. Der heiter-melancholische Grundton von wissender Wehmut erinnert vielmehr ein wenig an die letzte gemeinsame Nacht dreier Freunde im Stimmungsfilm-Klassiker „Absolute Giganten“. Noch deutlichere Bezüge gibt es allerdings zu ganz anderen Kino-Vorbildern – es ist kein Zufall, dass die Reise der Schwestern schließlich nach Paris führt.

    „Meine Schwestern“ ist auch eine Verbeugung vor dem französischen Kino eines Éric Rohmer („Pauline am Strand“), der seine Filme in Zyklen wie „Komödien und Sprichwörter“ einteilte und darin leichtfüßig-philosophische Betrachtungen zu Liebe, Freundschaft und zur menschlichen Natur schlechthin anstellte. Ähnlich dialogreich skizziert auch Kraume den Umgang seiner Figuren mit festgefahrenen Rollen, erstarrten Verhaltensmustern und  widerstreitenden Gefühlen, wobei er ganz wie das Vorbild nie die Gleise locker-intelligenter Unterhaltung verlässt. Hier sind die Stationen der Erzählung eben nicht lehrstückhaft vorgezeichnet, sondern man hat stets das Gefühl, dass hier trotz des unausweichlichen Endes alles passieren kann. So kommt es zu schönen Szenen, wenn Linda plötzlich mit einer mysteriösen ganz in schwarz gekleideten und geschminkten Französin (Béatrice Dalle) das Weite sucht – ein Exkurs, der gerade durch seine Ungezwungenheit besticht.

    Fazit: Lars Kraumes herausragendes Familiendrama „Meine Schwestern“ ist ein bittersüßes Roadmovie voller Leichtigkeit und Melancholie: Es wird getrunken, gefeiert, gestritten und geknutscht – bis zum unausweichlichen Ende, in dem Linda vor ihrer Operation im Krankenhaus zu ihren Schwestern sagt: „Bis gleich“ und dabei ahnt, dass es eine Lüge ist.

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