Gleich mit seinem Erstling „Primer“ entzweite Shane Carruth die Zuschauer des Sundance Film Festivals: Die einen taten sein 7.000 Dollar günstiges Zeitreise-Drama als hausgemachten Quatsch ab, die anderen waren von der atmosphärischen Kraft des sich überwiegend in einer Garage abspielenden Kammerspiels hingegen derart begeistert, dass der Film schlussendlich sogar mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. In „Primer“ liefert der studierte Mathematiker Carruth auf jeden Fall ein plausibles Zeitreise-Konzept ab, das anschließend auch von Rian Johnson in seinem Thriller „Looper“ zum Teil wieder aufgegriffen wurde. Mit seinem zweiten Werk „Upstream Color“ bleibt der Amerikaner Carruth seinem Hang zum experimentellen Kino treu und präsentiert ein visuell gewagtes, in konsequentem Zirkelschluss erzähltes Kreislauf-Epos, das den Zuschauer ähnlich konsterniert-begeistert zurücklässt wie sonst nur die Filme von solch stilwütigen Kino-Rätselkünstlern wie David Lynch („Lost Highway“) oder Terrence Malick („To the Wonder“).
Die junge Kris (Amy Seimetz) wird von einem Unbekannten (Thiago Martins) betäubt und gezwungen, einen kleinen Wurm zu schlucken. Dieser wirkt so auf ihr neurales System, dass sie absolut willenlos in eine Art Trance fällt. Anschließend zwingt der Mann sein Opfer, ihm die gesamten Ersparnisse auszuhändigen. Als die Frau wieder erwacht, kann sie sich an nichts mehr erinnern - erst ihr leeres Bankkonto und die vielen Schnittspuren an ihrem Körper lassen sie glauben, dass ihr etwas Schlimmes passiert sein muss. Einige Tage später trifft sie auf Jeff (Regisseur Shane Carruth selbst), zu dem sie sich augenblicklich und scheinbar ohne jeden Grund unglaublich stark hingezogen fühlt...
„Upstream Color“ spielt in einer Art Paralleluniversum, in dem die uns bekannten Naturgesetze nicht zu gelten scheinen. Schon der Auftakt mit der Frau, der Hypnose und dem Wurm ist bizarr – aber dann setzt Carruth sogar noch einen drauf: Mit dem Auftritt von Jeff kommen zu den Würmern auch noch Schweine und Orchideen hinzu! Wie hängen nun Menschen mit Schweinen, Würmer mit Orchideen, Menschen mit Orchideen oder Schweine mit Würmern zusammen? Das lässt sich auch am Ende des Films nicht eindeutig beantworten, doch die von Carruth etablierte bizarre Kreisstruktur der Verwandlungen und Verbindungen besitzt zumindest eine ganz eigene poetische Logik – und dann gehört plötzlich zusammen, was auf den ersten Blick überhaupt nicht zueinander zu passen scheint. Der Regisseur spinnt sein schweinisches Würmer-Universum so in sich stimmig immer weiter, dass das Finale nicht nur überraschend, sondern auch verblüffend schlüssig erscheint. Und schließlich verlässt der Zuschauer den Kinosaal mit dem überraschenden Gefühl, etwas über das Leben, das Universum und den ganzen Rest erfahren zu haben.
Unter der abstrakt-eigenwilligen Oberfläche der langen und oft starren Einstellungen von kargen Landschaften sowie der von klaren Formen und Farben geprägten Dekors, verbirgt sich eine sehr real und lebensnah wirkende Vision voller starker Gefühle. Liebe, Hass, Schmerz, Freude – nur weil die Welt des kunstbeflissenen Science-Fiction-Exzentrikers Carruth von Orchideen und Würmern bevölkert wird, besitzen diese Emotionen nicht weniger Kraft und Ausdruck! Mit dem ersten Aufeinandertreffen des desillusionierten Jeff mit der orientierungslosen Kris beginnt eine herzzerreißende Romanze, die vor allem durch das intensive Schauspiel der bisher vergleichsweise unbekannten Amy Seimetz eine zusätzliche Dimension bekommt. So ist der Moment, in dem sich die einsame und verzweifelte Kris beinahe die Pulsadern aufschlitzt, um zu erfahren, was eigentlich mit ihr passiert ist, geradezu unerträglich beängstigend. Shane Carruth, der in den fast kammerspielartigen Szenen mit seiner Herzensdame unter Beweis stellt, dass er nicht nur ein ausgezeichneter Regisseur, sondern auch ein hervorragender Schauspieler ist, erzählt ein ganz und gar ungewöhnliche, aber vor dem Hintergrund des zuvor etablierten Mensch-zur-Orchidee-Kreislauf-Universums absolut glaubwürdige Liebesgeschichte fernab von 08/15-Hollywood-Konventionen: Science-Fiction ist immer dann am besten, wenn sie einen zum Nachdenken über das eigene Dasein anregt – und in dieser Hinsicht ist „Upstream Color“ nur schwer zu toppen.
Fazit: Neun Jahre nach seinem Sundance-Abräumer-Debüt „Primer“ liefert Shane Carruth mit „Upstream Color“ einen Nachfolger, der sein Publikum womöglich noch verwirrter, aber mindestens ebenso begeistert zurücklässt – ein visuell beeindruckendes und stark gespieltes Liebes- und Science-Fiction-Epos, mit dem Carruth seinen Ruf als Instant-Ikone des amerikanischen Experimental- und Independent-Kinos weiter zementiert.