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    American Mary
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    American Mary
    Von Tim Slagman

    Horrorfilme leben von der delikaten Balance zwischen Faszination und Abscheu: So extrem die Gewaltexzesse auch sind, so gnadenlos die Verstörung – ohne die Anziehungskraft des Absonderlichen geht es nicht. Die besseren Horrorfilme verhandeln oft auch Fragen nach Normen, nach akzeptablem und Grenzen überschreitendem Verhalten. So auch der von den Zwillingen Jen und Sylvia Soska inszenierte „American Mary". Die Regisseurinnen lassen ihre Hauptfigur tief in die bizarre Welt der „body modification" eintauchen. Das Ergebnis ist über weite Strecken ein seltsam kühles, atmosphärisches Meisterstück, dem allerdings zum Ende hin die Luft ausgeht.

    Mary Mason (Katharine Isabelle) ist Medizinstudentin, Fachgebiet Chirurgie, die unter chronischem Geldmangel und ihrem despotischen Dozenten Dr. Grant (David Lovgren) leidet. Als sie sich in einem Strip-Club etwas dazu verdienen will, wird sie unversehens zu einer Notoperation an einem schwer verletzten Ganoven verpflichtet. Kurze Zeit später meldet sich die durch zahllose Schönheitsoperationen verunstaltete Tessa (Julia Maxwell) bei Mary und bittet um einen kleinen chirurgischen Gefallen für eine Freundin. Die fürstliche Entlohnung betäubt Marys ethische Bedenken. Als sie auf einer Party ihres Fachbereichs Opfer einer Vergewaltigung wird, beschließt sie, ihre neu entdeckten Fertigkeiten gezielt einzusetzen: Des lieben Geldes willen – und zur Rache an ihrem Peiniger.

    Ein Pamphlet für unorthodoxe Lebensstile ist „American Mary" nicht, dafür ist er zu unterkühlt und stilisiert. Die wohl dosierte Mimik von Katharine Isabelle (bekannt aus der Werwolf-Trilogie „Ginger Snaps"), die all den Stolz, Hass und Ekel ihrer Figur hinter einer stoischen Maske verbirgt, tut ihr Übriges, die Sympathie mit ihr und dem Untergrund der extremen Schönheitsoperationen zu erschweren. Das unter dem Namen „The Soska Sisters" firmierende Regie-Duo entführt in eine Kunstwelt, in der letztendlich auch der Mensch zum Objekt von Kunst und Handwerk geworden ist.

    Wenn Mary ihren längst zu einem heulenden, wimmernden Etwas degradierten Peiniger mit einem Rasiermesser die Zunge spaltet, fährt die Kamera beinahe respektvoll zur Seite. Ein anderes Mal sieht man in Großaufnahme die zwei frisch voneinander getrennten Köpfe ihres Mundlappens. Zwischen diesen beiden Extrempolen spielt sich nicht nur die Inszenierungsstrategie der Soskas ab, sondern auch die sozialpsychologische Dimension des ganzen Themas: Was dem einen Verstümmelung, ist dem anderen Verschönerung.

    Dieser Übergang ist natürlich zwangsläufig sehr blutig, aber an Blut, Sehnen und freigelegten Knochen sind die Regisseurinnen gerade nicht interessiert. Ihr Flirt mit dem Abscheulichen endet - zumindest bildästhetisch – beim Ansetzen des Skalpells. In dieser beinahe sterilen Atmosphäre, die auch die Ausflüge in den eigentlich schmuddeligen Strip-Club bestimmt, sind die Grenzen von Moral und Möglichkeiten aufgehoben. Erst als sich in diese Eiseskälte die Ahnung einer Liebesgeschichte drängt und zu einem seltsam aufgesetzten Showdown führt, verzetteln sich die talentierten Zwillinge dann doch noch in ihrem dennoch faszinierenden Gedanken- und Fleischgebäude.

    Fazit: Jen und Sylvia Soska flirten in „American Mary" mit dem Ekel, vermeiden dabei aber krasse Gewaltexzesse. So gelingt ihnen ein über weite Strecken faszinierend künstlicher filmischer Kosmos, in dem die Moral obsolet und der Mensch selbst zum Kunstwerk geworden ist. Nur das Ende schmälert das Vergnügen etwas.

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