Ob Ridley Scott wohl geahnt hat, was da auf ihn zugekommen wäre? Ursprünglich wollte der „Alien“- und „Blade Runner“-Regisseur die 50 Millionen Dollar teure Verfilmung von Tom Rob Smiths Bestseller „Kind 44“ inszenieren, doch irgendwann räumte der Brite das Feld und überließ Action-Spezialist Daniel Espinosa („Safe House“, „Easy Money“) den Regie-Job. Und der Schwede scheitert an der Herausforderung: Zwar gelingt es ihm recht gut, die düstere Atmosphäre der stalinistischen Nachkriegsära in der Sowjetunion heraufzubeschwören, aber die erzählerischen Schwächen des Drehbuchs bekommt er nie richtig in den Griff und die wenigen Actionszenen macht er durch übertriebenen Einsatz wackelig-nervöser Handkameraaufnahmen zu regelrechten Geduldsproben fürs Publikum. Es bleibt ein sorgfältig ausgestatteter Period-Thriller, dem mehr als das letzte Quäntchen Spannung fehlt und so ist es nicht wirklich überraschend, dass „Kind 44“ mit einem Einspielergebnis von nur 1,2 Millionen Dollar an der US-Kinokasse zu einem Fiasko allererster Klasse wurde.
Moskau, Anfang 1953: Der Waisenjunge Leo Demidow (Tom Hardy) hat es als Erwachsener weit gebracht. Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrte er als Held zurück – inzwischen ist er linientreuer Geheimdienstoffizier der sowjetischen Staatssicherheitsbehörde MGB und macht kompromisslose Jagd auf Regimefeinde. Als er den Tierarzt Anatoli Brodsky (Jason Clarke) festnimmt, der im Hinterland Unterschlupf bei einem befreundeten Paar gefunden hat, dreht Leos linkischer Kollege Wassili (Joel Kinnaman) durch und richtet Brodskys Helfer vor den Augen ihrer beiden Kinder hin. Unter Folter spuckt der Verhaftete später sieben weitere Namen von Personen aus, die ihm bei seiner angeblichen Verschwörung geholfen haben sollen. Darunter ist auch der von Leos Frau Raisa (Noomi Rapace). Generalmajor Kuzmin (Vincent Cassel) beauftragt ausgerechnet Leo selbst, den heiklen Verdacht zu untersuchen. Währenddessen sorgt der Fall eines tot auf Bahngleisen aufgefundenen Jungen für weitere Unruhe. Alexei Andrejew (Fares Fares), der Vater des Kindes und gleichzeitig MGB-Mitarbeiter, weiß, dass sein Nachwuchs ermordet wurde, aber die Verantwortlichen stellen den Vorfall als tragischen Unfall hin: Mord darf es in der sowjetischen Gesellschaft schlicht nicht geben. Für Leo wird es unterdessen zwischen den Fronten dieser beiden Ermittlungen zunehmend eng.
Es gibt Romane, die lassen sich vergleichsweise einfach adaptieren, weil sie bereits sehr kinofreundlich geschrieben sind. Auf den ersten Blick ist „Kind 44“, das lose auf dem realen Fall des Serienkillers Andrei Chikatilo beruht, ein solch gut verfilmbares Buch, weil es besonders von Tom Rob Smiths packend-plastischen Beschreibungen lebt: Schauplätze und Situationen werden in der Vorstellung des Lesers lebendig. Die Handlung dagegen erscheint in ihrem Verlauf zunehmend austauschbarer und Smith bewegt sich zudem hart am Rande der plumpen anti-russischen Propaganda. Dieser an den Kalten Krieg erinnernde Tonfall herrscht nun auch in Daniel Espinosas Film, doch ansonsten bleibt Drehbuchautor Richard Price („Kopfgeld“) der Vorlage keineswegs treu. Vor allem eine drastische Änderung der Filmemacher erweist sich als überaus problematisch: Der Täter im Fall des ermordeten Kindes ist nun ein anderer als im Buch. Er steht nicht mehr im Mittelpunkt der Handlung, sondern wird zu einer Randfigur mit gerade einmal zehn Minuten Leinwandzeit und ohne schlüssige Motivation. Von der komplexen psychologischen Konstellation im Buch bleibt nichts mehr übrig, auch Smiths erschütternde Eröffnungsszene im russischen Hungerwinter 1933 fällt dieser Entscheidung zum Opfer, die nicht zuletzt auf Kosten der Spannung geht.
Das erzählerische Defizit kann Regisseur Espinosa auch nicht mit den seltenen Actionszenen wettmachen, vielmehr ist in den turbulenten Momenten durch seine Vorliebe für die vogelwilde Handkamera kaum noch zu erkennen, was denn da überhaupt gerade passiert. Immerhin hat der Film atmosphärische Stärken: In dreckigen, stahlgrauen Bildern wird ein Klima der permanenten Verunsicherung, des politischen Drucks, der Einschüchterung durch die Geheimdienste erzeugt. Der zunächst staatstragende Protagonist Leo Demidow entdeckt trotzdem erst über den Fall des getöteten Jungen plötzlich sein Gewissen. Das ist an der Stelle nicht gerade überzeugend umgesetzt, aber der Offizier ist insgesamt dennoch die einzige Figur, die schlüssig ausgearbeitet wird, was auch der selbstbewussten Darstellung des charismatischen Tom Hardy („The Dark Knight Rises“, „No Turning Back“) zu verdanken ist. Die restliche Besetzung bleibt mit der Ausnahme von Routinier Gary Oldman („Dame, König, As, Spion“) als Demidows Kollaborateur Nesterow nahezu vollständig blass - das gilt trotz größerer Rollen auch für Noomi Rapace („Millennium“-Trilogie, „Prometheus“) und Shooting-Star Joel Kinnaman („The Killing“, „RoboCop“). Immerhin fällt in der deutschen Synchronfassung die Irritation weg, die dadurch entsteht, dass die internationale Besetzung sich im Original mit dicken russischen Akzenten artikulieren muss, was alles andere als überzeugend ausfällt.
Fazit: Daniel Espinosa macht aus Tom Rob Smiths packend geschriebenem Bestseller „Kind 44“ einen zähen Thriller ohne Spannung. Er punktet einzig mit atmosphärischen Bildern und einem guten Tom Hardy in der Hauptrolle.