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    Das Venedig Prinzip
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Das Venedig Prinzip
    Von Petra Wille

    Mit Venedig verbindet wohl jeder bestimmte Bilder, ob diese den Karneval zeigen, Büchern und Filmen entspringen oder dem eigenen Fotoalbum. Die auf Millionen von Holzpfählen errichtete Stadt fasziniert mit ihren Palästen, Kanälen, Brücken und kleinen Gassen und ist mit keiner anderen Stadt vergleichbar. Glanz und Größe verdankt Venedig dem Handel. Bereits um 1300 lebten hier fast 100.000 Menschen. Die Einwohnerzahl stieg weiter an, schwankte über die Jahrhundert und sinkt seit den 1970er Jahren wieder. Früher sorgte die Pest dafür, dass Venedig seine Bewohner verlor. Heute ziehen die Menschen aufs Festland, weil die Stadt ihnen keine Zukunft mehr bietet und die Mieten astronomische Höhen erreicht haben. Andreas Pichler zeigt in seinem Dokumentarfilm „Das Venedig Prinzip" mit gutem Gespür für besondere Bilder einen anderen Blick auf Venedig als den der bewundernden Besucher: den Blick der Einwohner, die teils resignieren, sich teils aber auch gegen das Ausbluten der städtischen Strukturen wehren.

    Wie geht es Venedig? Im Film kommen Bewohner der berühmten auch „Serenissima" genannten Lagunenstadt zu Wort, um diese Frage selber zu beantworten. Die 82-jährige Architektur-Expertin Tudy Sammartini lebt in einem Palazzo, den sie in Teilen an Touristen vermietet. Flavio fährt mit seinem Lastenboot die Habseligkeiten der Menschen aufs Festland, die aus der Lagune wegziehen müssen – am Ende wird es ihn selbst treffen. Herr Codato begutachtet Gebäude und ihre Bausubstanz und verzweifelt an der Unehrlichkeit in seinem Metier, denn reiche Interessenten wollen die unangenehme Wahrheit nicht hören: Der Mörtel bröckelt, weil die stetigen Wellen der Kanäle die Steine lockern, und die Restaurierungen der vergangenen Jahrzehnte halten nicht lange. Auch um einige Bewohner steht es mehr schlecht als recht: Ein Mann steht mitten unter Touristen mit einem Bettler-Schild: „I am Venetian, but I have no hotel, no gondola, no souvenirshop". Das Venedig-Prinzip scheint darin zu bestehen, sämtliche Infrastruktur zu vernachlässigen, die „nur" von den Einwohnerinnen und Einwohnern genutzt wird. Und so gehen wichtige Einrichtungen der Stadt verloren: Einmal läuft Tudy wehmütig durch ein wunderbares, verlassenes Gebäude und seufzt „Unsere schöne Post". Was eine Stadt zum Leben braucht – Märkte, Schulen, Krankenversorgung – wird in Venedig den touristischen Angeboten geopfert. Die Behörden und Regierungen lassen es geschehen und die Stadt verkommt zum Disneyland.

    So deprimierend Pichlers Bestandsaufnahme auch oft ist, seinem Kameramann Attila Boa gelingt es, der bereits tausendfach abgebildeten Stadt neue Ansichten abzugewinnen, etwa wenn er dem Gutachter Codato in dunkle Häuser folgt und beim Öffnen der Fensterläden wunderbare Räume mit Wandgemälden und Fußboden-Mosaiken zum Vorschein kommen. Nahezu genial ist die beim Ball der Dogen gefilmte Sequenz: Mit Montage und Ton bringen die Filmemacher hier den Widerspruch zwischen schnödem Sein und schönem Schein auf den Punkt. Doch auch die ganz einfachen Ansichten der Stadt sind aufschlussreich. Sie zeigen auf eindrucksvolle Weise das vom Tourismus geprägte Erscheinungsbild, schließlich hat das kleine Venedig mehr Kreuzfahrtgäste als das riesige New York; am stärksten ist das Bild, in dem sich ein bizarr großes Kreuzfahrtschiff durch die Gassen schiebt – es läuft gerade in den Hafen Venedigs ein und überragt die Dächer der alten Häuser überaus deutlich.

    In Pichlers aussagekräftigen Aufnahmen und vor allem in den unterschiedlichen Blickwinkeln der Bewohner, die er uns präsentiert, wird die Situation der Stadt deutlich. Die alten Menschen resignieren, aber unter den jüngeren sind noch einige, die kämpfen. So zum Beispiel die Eltern, die gegen die Schließung einer Kindernotstation protestieren. Oder ein paar Rapper, die wünschen, die Touristen mögen vom Hochwasser weggespült werden, dazu zeigt Pichler Bilder des nächtlichen Venedig. Die Aussichten für die Stadt scheinen schlecht. Das leicht Heruntergekommene einiger Viertel verliert seinen Charme, wenn man Prognosen hört, dass 2030 niemand mehr dort wohnen wird. Doch auch wenn der Gondoliere Flavio am Ende auf dem Festland wohnen wird und die Aussicht aus seinem Fenster nicht mehr mit der früheren zu vergleichen ist: Es gibt eine positive Seite der Veränderung, die womöglich auch der Stadt widerfahren wird.

    Fazit: Gut gewählte Protagonisten und außergewöhnliche Venedigansichten fügen sich zu einem sehenswerten Venedigporträt der anderen Art. Sehr kritischer, aber nie larmoyanter Blick auf den Niedergang einer Legende und die Versuche, zu retten, was hoffentlich noch zu retten ist.

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