Filme über Behinderungen und Krankheiten sind oft (wie) geschaffen für gestandene Schauspieler, die Herausforderungen lieben oder auf dem Kaminsims noch Platz für einen Filmpreis frei haben. Dustin Hoffman als Autist, Daniel Day-Lewis als Gelähmter, Tom Cruise als Rollstuhlfahrer, Russell Crowe als schizophrenes Genie oder Karoline Herfurth als Magersüchtige, die Reihe könnte man ewig fortsetzen. Eine besondere Ausnahme ist die oscarprämierte Leistung von Marlee Matin in „Gottes vergessene Kinder“, da die Actrice die Gehörlose nicht nur spielt, sondern tatsächlich behindert ist. Auch Fabien Héraud, der Hauptdarsteller von „Mit ganzer Kraft - Hürden gibt es nur im Kopf“, sitzt auch im richtigen Leben im Rollstuhl, schafft es aber, seiner Figur in Nils Taverniers Tatsachen-Drama mit Sportfilm-Anleihen Authentizität und Lebensfreude zu verleihen.
Der 17jährige Julien (Fabien Héraud) hat trotz seiner angeborenen Lähmung dieselben Träume wie Jugendliche, die Laufen, Schwimmen oder Radfahren können. Vor allem seine Mutter Claire (Alexandra Lamy), eine Friseurin, hat sich jahrelang um ihn gekümmert, während der Vater Paul (Jacques Gamblin), ein seit neuestem arbeitsloser Experte für Seilbahnen, eher vor der Nähe flüchtete. Als Julien herausfindet, dass sein Vater mal bei einem Iron-Man-Triathlon mitgemacht hat und er im Internet erfährt, dass in den USA ein Sportler die unmenschlich wirkende Distanz zusammen mit seinem behinderten Sohn zurücklegte, will auch er als Vater-Sohn-Gespann beim Sportevent in Nizza antreten.
Die Identifikation mit der Hauptfigur im Rollstuhl funktioniert in „Mit ganzer Kraft“ bereits durch eine simple Szene. Julien sitzt in seinem Zimmer und blickt durch ein Fernglas auf die Welt (ein beliebtes filmisches Motiv, vgl. etwa Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“. Als erstes verfolgt er den Flug einiger Vögel, dann betrachtet er (nicht zum ersten Mal) eine Frau, die sich in einer anderen Wohnung entkleidet, schließlich wandert sein Blick zur Straße, wo sein Vater mit einigen Freunden joggt. Es beginnt mit dem Menschheitstraum vom Fliegen, gefolgt vom universalen Wunsch nach sexueller Erfüllung, erst bei einer alltäglichen sportlichen Betätigung trennt sich der Blick des Zuschauers von dem des Protagonisten, Julien muss bei seinen Träumen weiter unten ansetzen, doch selbst das, was für die meisten banal und gegeben erscheint, ist für ihn oft unerreichbar.
Auch beim Sprechen oder dem Benutzen einer Computer-Tastatur hat Julien so seine Probleme. Umso absurder wirkt sein Wunsch. Vater Paul wendet beispielsweise ein, dass seine sportliche Hochleistung zwanzig Jahre zurückliegt und er es damals nicht mal bis ins Ziel schaffte, doch Juliens größte Stärke ist seine Hartnäckigkeit. Selbst nachdem der Teilnahme in Nizza von offizieller Seite widersprochen wird, macht er sich einfach mit seinem besten Freund Yohan (Pablo Pauly) zur Rennleitung auf und lässt sich nicht von irgendeinem Sekretär abweisen.
Juliens Lebenswillen wird auch über die Musik transportiert. Während die Filmmusik größtenteils eher bedächtig bis unauffällig ausfällt, hat der Protagonist einen Hang zu energisch-lauter Rockmusik, die auch die Kraft symbolisiert, die in seinem vermeintlich hilflosen Körper steckt. Julien definiert sich über seinen Traum, wo andere (insbesondere der Vater) die Kraft zu Träumen verloren haben und nur Hindernisse und Probleme wahrnehmen, nicht die Wege, sie zu meistern. Das „kleine Ziel“ für Vater Paul ist es, seine Ehe zu retten, und erst über die langsame Annäherung an den Sohn bildet sich auch wieder die Brücke zu seiner Frau.
Wie in jedem Sportfilm gilt es dabei aber zunächst kleine Trainingsschritte zu unternehmen, was zumeist aufgelöst wird in den seit „Rocky“ typischen Montagesequenzen. Diese werden hier mit vielen Landschaftsporträts aus den rheinischen Alpen, für die man auch ausgiebig Flugaufnahmen einsetzte, verstärkt. Und natürlich darf die in dem Genre oft bemühte Unmöglichkeit des Vorhabens nicht fehlen: Das Vorbild aus den USA hat sich 15 Jahre auf den Triathlon vorbereitet, Paul zweifelt zudem nicht nur an sich selbst, sondern auch daran, dass Julien einen ganzen Tag in der prallen Sonne überstehen kann. Doch wie sagt seine Frau? „Der, den ich vor 25 Jahren kennen lernte, hätte es durchgezogen.“
Die Gefahr ist groß, dass so ein Projekt auch für den Zuschauer ein „Durchhaltefilm“ wird, doch nicht nur ist „Mit ganzer Kraft“ mit 90 Minuten erstaunlich kompakt. Nils Tavernier, Sohn des bekannten französischen Regisseurs Bertrand Tavernier („Um Mitternacht“, „Der Lockvogel“), gelingt es auch, viele kleine Nebenhandlungen geschickt zu kombinieren, etwa ein sacht angedeutetes Interesse Juliens an einer jungen Rollstuhlfahrerin, die Beziehung zu seiner Schwester oder dem besten Freund, aber auch die Arbeitswelten von Vater und Mutter, die schleichenden Vorwürfe mancher Mitbürger und anderes. Nur beim eigentlichen Triathlon überzeugen nicht alle Entscheidungen der Filmemacher. Der Balanceakt zwischen Strapazen, Schwierigkeiten und euphorischer „heiler Welt“ gelingt nicht immer, doch im Genre Sportfilm, dem man sich zumindest während des Rennens anpasst, ist dies eine wiederkehrende Gefahr.
Fazit: Mainstream-Kino, das Mut macht. Dramaturgisch nicht immer rund, aber mit Sympathiebonus steuert man erstaunlich schnell ins Ziel.