Wenn eine Gruppe junger, amerikanischer Mädchen im Tutu um ein Holzkreuz tanzt, um ihre Jungfräulichkeit zu feiern, mutet das für den durchschnittlichen Westeuropäer eher bizarr an. Dieses merkwürdige Ritual ist Teil der so genannten „Purity Balls“, Reinheitsfeiern, mit denen die zunehmend große Gruppe Evangelikaler Christen in den USA sich und ihren Glauben feiert, der mit Keuschheit vor der Ehe anfängt, aber beileibe nicht aufhört. Warum es zu einfach und geradezu gefährlich wäre, diese extremen Christen einfach als radikale Gruppe abzutun, zeigt die Schweizer Regisseurin Miriam von Arx in ihrer herausragenden Dokumentation „Virgin Tales“, in der auf subtile Weise von der schleichenden Unterwanderung westlicher Gesellschaften mit ultra-konservativen religiösen Werten erzählt wird.
Zwei Jahre begleitete Miriam von Arx („Seed Warriors“, „Building the Gherkin“) die Familie Wilson – Vater Randy, Mutter Lisa und ihre sieben Kinder – die in Colorado Springs, im US-Bundesstaat Colorado leben. Die Wüstenstadt im Schatten der Rocky Mountains gilt als Hochburg Evangelikaler Christen, einer Glaubensgemeinschaft, die die Bibel wortwörtlich nimmt und in den vergangenen Jahren zunehmend an Einfluss gewonnen hat. Und das nicht nur auf das private Leben vieler Menschen, sondern in zunehmendem Maße auch auf die Politik. Von diesen zwei Sphären berichtet von Arx: zum einen von den Aktivitäten von Vater Randy, der in Washington als Lobbyist für die Überzeugungen seiner Kirche eintritt, und zum anderen vom Leben zu Hause, wo die Familie die Tradition des „Purity Balls“ ins Leben gerufen hat und die Töchter sich an ihrem Leben in christlicher Reinheit begeistern.
In unserer übersexualisierten Welt ist die Vorstellung, sich freiwillig für Enthaltsamkeit zu entscheiden, mit ersten sexuellen Erfahrungen bis zur Ehe zu warten, eher ungewöhnlich. Doch gerade in Amerika ist diese eher puritanisch anmutende Bewegung auf dem Vormarsch, symbolisiert zum Beispiel durch Purity Rings, Keuchheitsringe, die als Symbol der Enthaltsamkeit getragen werden. Miriam von Arx wendet sich nicht gegen diese Lebensweise an sich, sondern beherzigt den Ausspruch von Friedrich dem Großen, der schließlich einst sagte, dass jeder nach seiner Fasson selig werden soll. Allerdings zeigt sie auf, dass den Vertretern der Evangelikalen Christen solche tolerante Gedanken völlig fremd sind, auch wenn ihre Radikalität hinter oft penetrant anmutender Freundlichkeit und ewig wiederholter Phrasen wie „I love you“ und „You are so beautiful“ versteckt ist.
Auch wenn es schwer fallen mag, das Leben der exemplarisch geschilderten Wilson-Familie nicht zu belächeln, macht Miriam von Arx nach und nach deutlich, wie die einst kleine Gruppe von Gläubigen dabei ist, die politisch-gesellschaftliche Landkarte nicht nur der Vereinigten Staaten umzukrempeln. 25% der amerikanischen Bevölkerung zählen sich schon zu den Evangelikalen Christen, die nicht damit zufrieden sind hinter den Bergen im abgelegenen Colorado ein keusches, gottgefälliges Leben zu führen, sondern ihre Botschaft auch in die Zentrale der Macht tragen. Die radikale Tea Party ist die bekannteste Gruppe, die diese konservative Botschaft propagiert, gegen Homosexualität, Sex, Kondome, Abtreibung wettert und angesichts der zunehmenden Radikalisierung der amerikanischen Gesellschaft immer mehr Einfluss auf das politische Geschehen bekommt.
Auch wenn Vater Randy stets betont, dass es ihm nicht um Politik geht, geht es eben doch genau darum. Die Trennung von Kirche und Staat, die in Amerika ohnehin oft mehr auf dem Papier steht als in der Realität durchgesetzt zu werden (nicht umsonst prangt auf jeder Dollar-Note der Satz „In God we Trust“!), soll aufgehoben werden, eine Nation im Gleichklang mit biblischen Werten entstehen. Welche Gefahr aus dieser Entwicklung erwächst, deutet von Arx mit subtilen Methoden an: Immer wieder schneidet sie von den heimeligen Bildern der Familie Wilson zu Aufnahmen von Protesten der Tea Party, Demonstrationen gegen Schwule und ähnlichen Manifestationen der Radikalität.
Gerade die Tatsache, dass etliche der männlichen Keuchheitsanhänger Armeeangehörige sind, deutet die potentielle Dramatik dieser Entwicklung an. Denn es sind nicht nur die Anhänger radikaler Strömungen des Islam, die sich zunehmend fanatischer Rhetorik bedienen, auch Vertreter des nicht immer erleuchteten Westen verwenden oft ganz ähnliche Worte. Sogar einem Ehemann des Wilson-Clans fällt das auf: In Afghanistan wurde er fast Opfer eines Sprengstoffattentats und sagt: „Gott hat mich gerettet, doch gleichzeitig glaubt auch mein Gegenüber an Gott und folgt seinen Worten. Das war für mich eine einschneidende Erkenntnis.“ Keine Frage, in ihrer Radikalität, in ihrer unverbrüchlichen Intoleranz nähern sich die Evangelikalen Christen den ebenso radikalen Vertretern des Islam an. Doch wenn man den etwas tumben Blick dieses Mannes betrachtet, steht zu befürchten, dass er die Lehre, die er aus dieser Erfahrung ziehen könnte, ignorieren wird.
Fazit: In ihrem starken Dokumentarfilm „Virgin Tales“ beschreibt Miriam von Arx die wachsende Gemeinschaft der Evangelikalen Christen, deren extreme Auslegung der Bibel zunehmend zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen führt, deren problematische Folgen sie auf überzeugende und subtile Weise andeutet.