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    Paradies: Glaube
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Paradies: Glaube
    Von Ulf Lepelmeier

    Ob in „The Master" von Paul Thomas Anderson, „To The Wonder" von Terrence Malick oder im späteren Hauptpreisträger „Pieta" von Kim Ki-Duk – Religion und Glaubensfragen waren die beherrschenden Themen des Wettbewerbs der Filmfestspiele von Venedig 2012. Doch kaum ein Film verstörte sein Publikum so sehr wie der Gewinner des Jury-Preises: „Paradies: Glaube". Das Mittelstück von Ulrich Seidls Paradies-Trilogie, in deren Teilen sich jeweils eine Frau auf eine ganz persönliche Heilssuche begibt, ist das beklemmende Psychogramm einer einsamen Frau, die ihre unerfüllte Sehnsucht nach Geborgenheit auf extreme Weise durch ihren Glauben zu kompensieren sucht. Seidls radikal-ungeschönter Film erzürnte einige konservative Gemüter so stark, dass bei der Staatsanwaltschaft von Venedig sogar eine Klage wegen Blasphemie eingereicht wurde.

    Anna Maria (Maria Hofstätter) arbeitet als medizinisch-technische Assistentin in der Röntgenabteilung eines Krankenhauses. Seit zwei Jahren lebt sie allein in ihrem Haus, das sie mit vielen Devotionalien geschmückt hat. Das Leben der erzkonservativen Katholikin ist völlig von ihrem Glauben bestimmt: Regelmäßig geißelt sie sich, führt Zwiegespräche mit Jesus und verbringt ihre freien Tage mit dem Versuch, Ungläubige zum erlösenden Glauben zu bekehren. Eines Tages steht unvermittelt Annas Ehemann Nabil (Nabil Saleh) vor der Tür, den sie komplett aus ihrem Leben und ihren Gedanken verdrängt und gleichsam durch Jesus ersetzt hatte. Ihr strenger Glaube, der eine Verletzung der heiligen Institution der Ehe nicht zulässt, verbietet es Anna, dem querschnittsgelähmten Muslim die Hilfe zu verwehren. Schon bald entbrennt zwischen den beiden ein zermürbender psychologischer Krieg, der Annas Glaubensparadies zu einer privaten, perspektivlosen Hölle mutieren lässt.

    Ulrich Seidl hat seine Trilogie mit „Paradies: Liebe" eröffnet, in dem die beleibte Teresa (Margarete Tiesel) ihr Heil in den Armen von käuflichen Männern in Kenia sucht. Im zweiten Teil geht es nun um Teresas ältere Schwester Anna Maria, die der Männerwelt gänzlich den Rücken kehrt und Jesus ihre Liebe darbringt, ehe sich zum Abschluss in „Paradies: Hoffnung" Teresas 13-jährige Tochter Melanie (Melanie Lenz) im Diätcamp in einen über 40 Jahre älteren Arzt verliebt. Die drei Filme kommen im Abstand weniger Monate in die deutschen Kinos, ihre Geschichten von der ganz individuellen Suche der jeweiligen Protagonistin nach dem persönlichen Glück können aber sehr gut auch für sich allein stehen.

    In „Paradies: Glaube" sieht Anna Maria das Heil in Jesus, ihr Glaube ist fanatisch und sie setzt sich dafür ein, dass Österreich wieder ein katholizistisches Land wird. Doch gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, uneingeschränkte Nächstenliebe zu praktizieren. Zum einen ist ihr Glaube bisweilen erfüllt von sexuellen Phantasien, etwa wenn sie Jesus als wunderschönen Mann anhimmelt, in dessen Augen sie sich verlieren möchte. Zum anderen hat sie zwar die Stärke und den Willen, ihren Glauben zu predigen und lässt mit stoischer Ruhe alle Gegenargumente, Beleidigungen und Anfeindungen an sich abprallen, aber dafür gelingt es ihr nicht, auf vernünftige Weise mit ihrem zurückgekehrten Mann umzugehen und nutzt seine Gebrechlichkeit aus.

    Wie schon bei ihrer Zusammenarbeit mit Ulrich Seidl in „Hundstage" stürzt sich Maria Hofstätter unerschrocken in ihre schwierige Rolle. Erschreckend präzise arbeitet sie das engstirnige Denken der überkorrekten Frau heraus. Wenn Anna Maria wildfremden Menschen einen Besuch abstattet, sie das Beten lehren und von den Sünden der modernen Welt befreien will, mutet das absurd an. Sie interessiert sich letztlich überhaupt nicht für die Menschen, die sie missionieren will, die sind für sie bloße Objekte ihrer von Gott auferlegten Pflicht. Und auch ihre Patienten behandelt Anna Maria nur mit unterkühlter Professionalität, während all ihre Herzlichkeit dem abgöttisch verehrten Gottessohn vorbehalten bleibt. Die Rückkehr ihres muslimischen Ehemanns wird so zur herausfordernden Prüfung für die Protagonistin: Je länger dessen Aufenthalt dauert, desto mehr scheint Anna Marias überhebliche Selbstgefälligkeit zu zerrinnen.

    In unverkennbar schonungsloser Manier begleitet Ulrich Seidl („Import/Export") seine Hauptfigur. Wenn Anna Maria sich mit masochistischer Hingabe nackt vor dem Kruzifix auspeitscht oder mit einem Bußgürtel um den Schenkel auf Knien durch ihre ganze Wohnung robbt, verweilt die Kamera schmerzlich lang auf dem bedrückenden Geschehen, bis es kaum mehr auszuhalten ist. So konstruiert das plötzliche Auftauchen des an den Rollstuhl gefesselten Ehemanns auch wirkt, es bietet Seidl Gelegenheit eine extreme Konfliktsituation zu kreieren, die Anna Maria in einen verzweifelten inneren Glaubenskampf stößt.

    Die Blasphemieanzeige der italienischen Lebensschutz-Organisation „NO 194" gegen Seidl, Hofstätter, die Produzenten und das Festival von Venedig bezieht sich insbesondere auf eine provokante Szene, in der Anna Maria mit einer Jesusfigur am Kruzifix masturbiert. Im Kontext des Films und der Darstellung seiner fanatischen Protagonistin erscheint diese extreme Szene aber nicht als blasphemische Diffamierung eines zentralen christlichen Symbols, sondern vielmehr als drastisch- verstörende Visualisierung von Anna Marias zermürbender Glaubenskrise. In dieser Szene wird die fehlgeleitete Liebe der Protagonistin und ihre Zerrissenheit zwischen ihrem bedingungslosen Gottesglauben und ihrem körperlichen Verlangen auf schonungslose Weise zum Ausdruck gebracht.

    Fazit: „Paradies: Glaube" ist Ulrich Seidls bissiger Kommentar zu religiösem Fanatismus. Mal abstrus sarkastisch, mal unerträglich hart wirft der österreichische Filmemacher im zweiten Teil seiner Trilogie „Liebe, Glaube, Hoffnung" einen fesselnden Blick in verstörende Abgründe der Begierde.

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