Uruguay verbindet man weniger mit großen Filmen als mit großem Fußball – das kleine Land zwischen Argentinien und Brasilien gewann zweimal die Weltmeisterschaft und erreichte dreimal den vierten Platz, zuletzt 2010. Mit einem Freizeitdribbler im Mittelpunkt, der unter seiner Scheidung leidet, findet die weltbekannte Fußballmanie des Landes auch in „3/Tres" ihren Platz, aber erzählt wird in erster Linie von einer zerrissenen Mittelschicht-Familie in der Hauptstadt Montevideo. Regisseur Pablo Stoll Ward, der dem uruguayischen Kino zusammen mit dem 2006 freiwillig aus dem Leben geschiedenen Juan Pablo Rebella hierzulande einst erste Aufmerksamkeit verschaffte, lässt den gemeinsamen Werken „25 Watts" und „Whisky" nun auch in seinem zweiten Solowerk eine eigenständige Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit folgen. Der Witz der dramatisch eingefärbten Komödie kommt auf sehr leisen Sohlen daher, aber mit ihrem stimmigen visuellen Konzept, glaubwürdigen Figuren und talentierten Schauspielern hat sie auch ganz offensichtliche Stärken.
Der Zahnarzt Rodolfo (Humberto de Vargas), seine Ex-Frau, die Stenographin Graciela (Sara Bessio), und die bei ihrer Mutter lebende gemeinsame Tochter Ana (Anaclara Ferreyra Palfy), die noch zur Schule geht, sind jeweils auf ihre Weise unglücklich. Rodolfo verliert nicht nur seine Freundin Alice buchstäblich aus den Augen, sondern auch die Lust an seiner Arbeit und sogar den Platz in seiner Hobby-Fußballmannschaft. Immer stärker sehnt er sich zu der Familie zurück, die er einst für Alice aufgegeben hat. Aber Graciela will nichts mehr von ihm wissen, seine Reparaturarbeiten in ihrer Wohnung nerven sie. Ohnehin ist sie durch ihren Job und das Bangen um ihre hochbetagte Großtante im Krankenhaus innerlich so aufgerieben, dass sie froh ist, wenn sie sich zusammen mit ihrer Tochter bei einer Daily Soap im Fernsehen entspannen kann. Ana schließlich lässt sich mehr und mehr treiben. Weil sie kaum noch zum Unterricht erscheint, wird sie ihre Klasse wohl wiederholen müssen. Auch ihr Handball-Spiel vernachlässigt sie. Doch auf alle drei wartet so etwas wie eine zweite Chance, es noch einmal miteinander zu versuchen.
Regisseur Pablo Stoll Ward setzt auf eine minimalistische Inszenierung und auf eine sehr offene Erzählweise. Für den Betrachter ist es, als würde er zufällig Zeuge der Geschehnisse, als sei er auf eine Party geraten, deren Gastgeber weder etwas von sich erzählen noch überhaupt mit ihm reden: Nur durch Beobachtung und intensives Zuhören erfährt man, wer die Personen sind und was sie bewegt. Der Zuschauer wird zum Spurenleser. Das erfordert Geduld und außerdem die Bereitschaft, die gemachten Vermutungen über das Innenleben der Figuren immer wieder infrage zu stellen. Das hat freilich auch seinen Reiz und lässt dem Publikum stets ein Höchstmaß an (Interpretations-)Freiheit.
Regisseur Ward bringt dem Zuschauer unspektakulär und trotzdem sehr eindringlich die Lebenssituation und Befindlichkeit seines Trios nahe. Mögen sich die 119 Minuten von „3/Tres" manchmal lang anfühlen – sie erlauben, allmählich die liebenswerten Seiten der Hauptfiguren zu entdecken. Der mit sich selbst und anderen so strengen Graciela ist man geradezu dankbar dafür, dass sie irgendwann an der Schulter ihrer Krankenhausbekanntschaft Dustin (Néstor Guzzini) einschläft und eine Liaison mit ihr beginnt. Die verlogene Ana, deren 22jährige Darstellerin Anaclara Ferreyra Palfy mit natürlicher Ausstrahlung und ungezwungenem Spiel Star-Potenzial zeigt, wird erst durch ihren eigentümlichen Fetischismus zur überaus faszinierenden Figur: Durch halb Montevideo jagt sie einem Musiker hinterher, um sein Nackentattoo zu fotografieren, und mit einem anderen geht sie ins Bett, weil sie seine Knie offenkundig so schön findet. Der Darsteller des Rodolfo Humberto de Vargas wiederum ist wohl nicht ganz zufällig auch als Fußballmoderator tätig: Rodolfo will alle Tore selber schießen und gebärdet sich im Leben ganz ähnlich wie auf dem Sportplatz, indem er auf unangenehm eigensinnige Art versucht, es allen recht zu machen. Das sorgt immer wieder für Ärger und Peinlichkeiten. Wenn von einem bestimmten Punkt an Graciela und Ana dennoch zu ihm stehen, so ist ihnen das nicht hoch genug anzurechnen – eine sympathische Demonstration von Liebe und Mitmenschlichkeit.
Einiges in Stoll Wards zweitem Spielfilm als allein verantwortlicher Regisseur nach „Hiroshima" erinnert an Klassiker des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni wie „Die Nacht", „Liebe ´62" oder „Die rote Wüste". An deren geometrisch ausgeklügelte und lang ausgehaltene Einstellungen knüpft Stolls Kamerafrau Bárbara Álvarez in „3/Tres" an, Figuren und Räume werden so in ein vielsagendes Spannungsverhältnis gesetzt. Alice bekommt man nie zu sehen, aber dass sie Rodolfos geliebte Pflanzen verbannt, ist eine eindeutige Botschaft. Graciela wiederum fühlt sich aus ihrer Wohnung gedrängt, als Rodolfo deren Renovierung veranlasst. Fast immer ist der Raum zu eng oder zu weit, wirklich zusammenzufinden und trotzdem individuell eigene Wege gehen zu können, das ist für das Protagonisten-Trio eine scheinbar unmöglich zu erreichende Balance. Die emotionalen Probleme in der Mittelschicht und die Schwierigkeiten, diese in Worten zu formulieren, finden fast wie bei Antonioni visuell beredten Ausdruck. Das ist in seiner erzählerischen Verknappung so universell, dass der Film überall auf der Welt spielen könnte – über die spezifische Situation in Uruguay erfährt man entsprechend eher wenig.
Fazit: Ein formal strenger Film über Menschen wie Du und ich, der ganz allmählich entdeckt und geliebt werden will. Wer Langmut, große Aufmerksamkeit und Lust am Detail mitbringt, ist im Vorteil.