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    Wir wollten aufs Meer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Wir wollten aufs Meer
    Von Tim Slagman

    Einen starken, assoziationsreichen Titel hat sich Toke Constantin Hebbeln für seinen zweiten Kinofilm ausgesucht: „Wir wollten aufs Meer", das klingt nach einer kaum fassbaren Sehnsucht, nach Ausbruch, Freiheit und Unendlichkeit – und danach, dass dieser Traum aus irgendeinem Grund längst ausgeträumt ist. Den Ozean mit all den dazugehörigen Wünschen und Enttäuschungen hatte Hebbeln schon 2006 mit „Nimmermeer" als Leitmotiv entdeckt. Für jene Geschichte eines kindlichen Träumers, der hinter unserer Welt noch eine andere vermutet, gewann der Absolvent der Filmakademie Baden-Württemberg damals einen Studenten-Oscar. Und auch in seinem neuen Werk kommt es zum Zusammenprall der Wirklichkeit mit den zaghaften Hoffnungen auf das ganz Andere, das Unbekannte. Doch die Vorzeichen sind dieses Mal andere, denn „Wir wollten aufs Meer" ist ein Polit-Drama: Hebbeln zeichnet mit groben, effektiven Strichen ein politisches System nach, das aus Freunden Feinde macht und in dem fehlgeleiteter Ehrgeiz und Desillusionierung noch die intimsten Beziehungen vergiften. Wirklich störend ist hier nur sein Hang zu reißerischen Spannungsmomenten, mit denen er die sonst weitgehend sensible Schilderung einer schwierigen Freundschaft in der DDR immer wieder aufbricht.

    Rostock 1982: Die Freunde Cornelis (Alexander Fehling) und Andy (August Diehl) erreichen die Ostsee mit dem erklärten Ziel, bei der Handelsmarine anzuheuern und um die Welt zu segeln. Doch daraus wird nichts. Jahre später überredet Andy seinen zögernden Freund, die richtigen Strippen zu ziehen, um endlich aufs Meer zu dürfen: Die beiden horchen für die Stasi ihren Arbeitskollegen Matze (Ronald Zehrfeld) aus. Über den Auftrag kommt es jedoch zum Zerwürfnis zwischen den Freunden. Dann wird Andy von einem LKW angefahren und schwer verletzt, während Cornelis‘ Verhältnis mit der Vietnamesin Phuong Mai (Phuong Thao Vu) auffliegt. Der will nun mit seiner Freundin in den Westen fliehen – an Andys Krankenbett tauchen derweil ein paar graue Herren auf und erbitten Informationen über den Fluchtweg der beiden. Schließlich wolle Andy nach seiner bevorstehenden Operation doch wieder aus der Narkose aufwachen...

    Geschichte und Gefühl, die abstrakte Historie und die Personalisierung derselben am individuellen Beispiel – das ist ein wahres Minenfeld. Hebbeln nimmt das Vorrecht des Geschichtenerzählers auf eine fiktionale Verdichtung in Anspruch und formt aus den gesichtslosen Bürokraten der Stasi im Rahmen einer klassischen Identifikations- und Spannungsdramaturgie runde Figuren: Immerhin wird politisches Unrecht im Kino umso spürbarer, wenn es vertraut gewordenen Protagonisten widerfährt. Hebbelns Oscar-Kollege Florian Henckel von Donnersmarck ging mit „Das Leben der Anderen" ähnlich zu Werke; seine Bekehrungsgeschichte war sogar noch einen Tick sentimentaler. Dafür geht Hebbeln bei der Darstellung der drastischen Spitzelstaat-Methoden in die Vollen: eine Morddrohung, eine Republikflucht, eine Verfolgungsjagd im Niemandsland an der Grenze zur Tschechoslowakei – und der Film ist noch nicht einmal halb vorbei.

    Hebbelns zupackender Ansatz sorgt für viel Spannung, aber in der zweiten Filmhälfte gerät mit Andy die schillerndste und ambivalenteste Figur etwas aus dem Fokus. Um Cornelis und Phuong Mai geht es dann, um die Unmenschlichkeit in DDR-Gefängnissen, um Solidarität unter den „Politischen", um kleine Schlupflöcher und sehr subtil auch um die Psyche eines Mannes, dem gleichermaßen sein Lebenstraum und sein bester Freund abhandengekommen sind. Dabei will der ihm immer noch nahe sein, auch wenn er Cornelis dafür verraten muss. Die Behutsamkeit, die Hebbeln hier zeigt, hätte dem Film auch an anderer Stelle gutgetan, zumal die feinfühligen Hauptdarsteller Alexander Fehling („Goethe!") und August Diehl („23", „Die kommenden Tage"), die bereits in Andres Veiels Terrorismus-Drama „Wer wenn nicht wir" gemeinsam vor der Kamera standen, viel Gespür für die Zwischentöne sowie die Ecken und Kanten ihrer Figuren zeigen.

    Die Normalität und der Alltag im Stasi-Staat kommen in „Wir wollten ans Meer" allerdings etwas kurz, schließlich richtet Hebbeln seine Geschichte an spektakulären und außergewöhnlichen Schicksalen aus und nicht am Durchschnittsbürger. Aber braucht der Film dieses ständige Kribbeln von Chance und Enttäuschung im Gefängnis tatsächlich? Braucht er eine mit derartigem Brimborium betriebene Enthüllung wie die, als in einer Szene die Kamera aufdringlich lange an einem unauffällig anwesenden Spitzel vorbeischaut, um ihn dann – tata! – ins Bild gleiten zu lassen? Hier wird etwas reißerisch auf äußere Spannung gesetzt, thematisch tragen derartige Szenen wenig bei. Dabei hat Hebbeln so starke Hauptfiguren entworfen und zwischen ihnen eine so faszinierende Dynamik entstehen lassen, dass diese vermeintlichen Höhepunkte mehr von den eigentlichen Qualitäten des Films ablenken, statt sie zu untermauern.

    Fazit: Das Stasi-Drama „Wir wollten aufs Meer" besticht durch eine sehr genaue, mitfühlende Beobachtung der beiden Hauptfiguren, die angesichts des Spitzelstaates sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen plausible Wege gehen. Die etwas reißerische Spannungsdramaturgie läuft dem enormen psychologischen Potenzial der sehr intimen Geschichte jedoch zuweilen zuwider.

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