Drei Jugendliche gehen gemeinsam zum Public Viewing, Länderspiel gucken. Man trinkt Alkohol und zieht anschließend um die Häuser. Am nächsten Morgen sind die drei nicht aufzufinden – kein Wunder, dass ihre Eltern sich irgendwann Sorgen machen. Mit diesen drei Sätzen ist die vergleichsweise banale Handlung von Sylvie Michel-Caseys Langfilmdebüt „Die feinen Unterschiede" bereits grob zusammengefasst. Ein Vorfall, wie er in den besten Familien vorkommt – und damit nicht zwangsläufig eine Steilvorlage für eine spannende Geschichte mit Leinwandformat. Es mag daher durchaus überraschen, dass der mit weitgehend unbekannten Schauspielern besetzte Film mit einem bundesweiten Kinostart belohnt wird. Und tatsächlich: Dank seiner einfühlsamen Erzählweise, seinen authentischen Bildern und seiner Detailverliebtheit ist das sozialkritische Psychodrama zeigens- und sehenswert. Auch wenn es sich hier eher um einen interessanten Thesen- und Themenfilm handelt als um fesselndes Spannungskino.
Der erfolgreiche Arzt Sebastian (Wolfram Koch) pflegt nicht nur zu seinen Patienten, sondern auch zu seinem Sohn Arthur (Leo Bruckmann) ein vertrauensvolles Verhältnis. Er versucht gar nicht erst, den Teenager bei dessen Abend- und Freizeitgestaltung mit Freundin Julia (Katharina Kubel) zu bevormunden. Die bulgarische Putzfrau Jana (Bettina Stucky), die in der Klinik und im Privathaus des Facharztes für Sauberkeit und Ordnung sorgt, verfolgt da eine ganz andere Strategie: Sie lässt ihre hübsche Tochter Vera (Silvia Petkova), die ohne deutsche Sprachkenntnisse ein Studium in Berlin beginnen soll, keine Sekunde aus den Augen. Als Arthur, Julia und Vera abends gemeinsam ausgehen und am nächsten Morgen wie vom Erdboden verschluckt sind, bricht Jana in Panik aus. Sebastian hingegen bleibt zunächst gelassen, macht sich aber dann doch gemeinsam mit seiner Putzfrau auf die Suche...
Schwarzer Mercedes, schicker Anzug, eine prunkvolle Villa in Berlin-Grunewald – keine Frage, Sebastian gehört als angesehener Arzt, der sogar in Talkshows nach seiner Expertenmeinung gefragt wird, zu den Besserverdienern. Ganz anders Jana: Die in ihrem Heimatland Bulgarien früher als Lehrerin tätige Immigrantin bewohnt in einem Hochhaus, unter dem die U-Bahn alle zehn Minuten die Wände vibrieren lässt, eine winzige Ein-Zimmer-Wohnung und teilt sich den Raum mit Tochter Vera als Schlafzimmer. Der Filmtitel resultiert aber nicht nur aus den sozialen Unterschieden, die Sebastian und Jana vordergründig voneinander trennen: Es ist der Umgang mit dem eigenen Nachwuchs, den Sylvie Michel-Casey, die gemeinsam mit Melissa de Raaf und Razvan Radulescu auch das Drehbuch schrieb, hinterfragt.
Ursprünglich wollte Michel-Casey sich auf die drei ausgebüxten Jugendlichen konzentrieren, aber im Laufe der insgesamt dreijährigen Entwicklungsphase traf sie die Entscheidung, das Skript noch einmal umzuschreiben und statt der Teenager deren Eltern in den Mittelpunkt zu rücken. Diese Akzentverschiebung erweist sich als ergiebig: Mit gutem Gespür fürs Detail – schließlich heißt der Film ja „Die feinen Unterschiede" – arbeitet die Filmemacherin heraus, dass sich Sebastian und Jana trotz ihrer gänzlich konträren Erziehungsphilosophien, ihrer verschiedenen Herkunft und Gehaltsklassen letztlich doch ähnlicher sind, als es zunächst den Anschein hat. Während Sebastian die besorgte Jana anfangs noch belächelt und vorschnell dafür tadelt, seinen Berufsalltag in der Klinik zu stören, nähert er sich ihr in der gemeinsamen Ohnmacht, die Heranwachsenden nicht finden zu können, immer weiter an.
In einer bezeichnenden Sequenz steht der Facharzt wie benommen vor seinem offenen Kühlschrank, nimmt geistesabwesend einen Tetra Pak aus der Innentür und stellt Jana, die längst erkannt hat, in welch ernster Situation sich die beiden Erziehungsberechtigten befinden, gedankenverloren ein Glas Saft hin: Hier sind sich die beiden plötzlich ungewohnt nah. Denn trotz aller vordergründigen Freundlichkeit gegenüber seiner bulgarischen Putzfrau – die sich zum Beispiel darin äußert, dass Sebastian seinen Kollegen Dr. Noack (Wilhelm Eilers) mit missbilligenden Kommentaren straft, als dieser Jana herablassend seinen Mittagssnack holen schickt – verdeutlicht Michel-Casey eines unmissverständlich: Sich wirklich zu verstehen, das werden die beiden nicht lernen. Provoziert von Sebastians Teilnahmslosigkeit bringt die panische Jana schließlich alles auf den Tisch, was zwischen den beiden steht und sich allein mit Worten nicht überbrücken lässt. Nicht jeder ihrer Vorwürfe ist berechtigt, doch ihre Eruption verdeutlicht, wie sehr sie sich als gelernte Lehrerin bei ihrem Putzjob gedemütigt fühlt und wie wenig sie sich vom Sozialneid freisprechen kann.
Die präzise Fotografie von Kameramann Mario Massini steht der Low-Budget-Produktion gut zu Gesicht, er dokumentiert das Geschehen in der teuer eingerichteten Villa vornehmlich mit wackeliger, aber unaufdringlicher Handkameraarbeit. Regisseurin Michel-Casey nimmt die Position der aufmerksamen Beobachterin ein und verzichtet entsprechend auch weitgehend auf den Einsatz von Musik, die nur zum Auftakt und in der letzten Einstellung des Films ein wenig künstlich Atmosphäre schürt. Ansonsten lässt Michel-Casey die Gesichter der Darsteller in ausdrucksstarken Bildern für sich sprechen. Bloß eines ist ihr Film dabei nie: spannend. Vielmehr wird nüchtern und thematisch klarsichtig eine Versuchsanordnung durchexerziert, die nur solange funktioniert, wie die Kinder verschollen bleiben und in der die klassische Dramaturgie so auch kaum eine Rolle spielt.
Fazit: Mit „Die feinen Unterschiede" liefert Sylvie Michel-Casey ein sehenswertes und mit viel Liebe fürs Detail inszeniertes Familiendrama ab, das zwar nicht spannend, dafür aber inhaltlich ergiebig ist.