Nachdem er sich in "Shining" dem puren, ungefilterten Wahnsinn, in "2001" dem von Menschenhand geschaffenem Bösen (sowie auch dem Unbekannten irgendwo dadraußen) und in "Uhrwerk Orange" dem Wesen der Gewalt widmete, begibt sich Stynley Kubrick in seinem letzten Werk auf eine Reise in die Tiefe der menschlichen Lust und ihrem Konflikt mit gesellschaftlichen und sozialen Zwängen. Und auch dieses Thema kann er vorzüglich meistern, wenn auch der Film auf der reinen Eindrucksebene um einiges besser funktioniert als auf einer Bedeutungsebene, so ist dieser Eindruck ein sehr starker und wirkt sehr lange nach.
Schon zu Beginn beeindruckt der Film mit großartiger, nahezu feierlicher Musik, die erste Einstellung zeigt kurz eine sich entblößende Frau. Damit ist auch der Grundton gesetzt, wenn auch mehr auf symbolischer Ebene: Ein stilvoller Seelenstriptease der Hauptfiguren, leicht distanziert und analytisch. Nach einem Partybesuch, bei dem sich das Ehepaar Bill und Alice wunderbar treu bleibt und sich somit als das perfekte Paar präsentiert, kommt der Bruch in verbaler Form: Bei einer nach und nach eskalierender Unterhaltung der beiden (u.a. angeregt durch Drogenkonsum) gesteht Alice ihre sexuellen Fantasien sowie einen früheren Beinahe-Fremdgang. Beinahe, wohlgemerkt, doch Bill, bis dahin absolut von der Treue seiner Frau überzeugt - diese Bekenntnis sorgt bei dieser für einen grandiosen Lachanfall - ist zutiefst geschockt. Aufgrund des Todesfalls eines Freundes außer Haus gerufen, nutz er sogleich dies Gelegenheit, um seinen wirren Gedanken in den dunklen Straßen der Stadt freien Lauf zu lassen. Es beginnt ein nächtlicher Streifgang, stets ganz nahe an der Grenze zwischen Treue und Verführung...
Von den inszenatorischen Qualitäten von Stanley Kubrick muss man nicht allzu viel erzählen, seine audiovisuelle Perfektion sollte den meisten bekannt sein. Auch in "Eyes Wide Shut" stimmt jede Einstellung, jeder Schnitt, jede Bewegung, selten sieht man Bilder von einer solchen Klarheit und einer solch reinen und doch faszinierenden Exposition. Tom Cruises Reise durch die Nacht ist ein Fest für die Augen, verwirrend und magisch zugleich. Seine Begegnungen mit den verschiedenen skurillen Figuren hinterlassen einen bleibenden Eindruck, sein Wandel am Grat zwischen der Vernunft und der Lust amüsiert und verstört zugleich, besonders beim Höhepunkt auf dem Anwesen, dem Monument der ungebändigten Sexualität, welches jedoch gar lebensgefährlich zu sein scheint. Ist es das denn wirklich oder ist alles nur eine Täuschung? Verschiedene Indizien sprechen für beides, die Verwirrung ist perfekt. Umso gruseliger die Zusammenhänge zwischen Bills Erlebnissen und Alices Träumen - oder ist alles Geschehene nur ein Traum, eine Illusion, von der Lust auf die Lust verursacht? Ob nun ein Rätsel oder die Inszenierung eines Rätsels, der Film strahlt eine seltsame Faszination aus. Stanley Kubrick schafft hier mit seinem letzten Werk ein sehr ästhetisches und betörendes Meisterwerk über das Wesen der Lust und dessen Konflikt mit dem von der Gesellschaft geforderten Bund der Ehe, welches lediglich unter der in diesem Sinne moralisch oftmals sehr befreiten heutigen Gesellschaft leidet, wodurch der Kontrast nicht die gewollten Ausmaße erreicht. Dennoch, auch in heutiger Sicht ist der Film ein echtes Erlebnis, ein letztes, gemeines Vermächtnis des vielleicht besten Regiesseurs aller Zeiten, dazu noch mit einem der lakonischsten, aber gleichzeitig auch einem der ausdrucksvollsten Schlusssätze aller Zeiten. Danke, Mr.Kubrick, für alles, womit Sie die Filmkulturlandschaft bereichert haben.