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    Kid-Thing
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Kid-Thing
    Von Sascha Westphal

    Der gigantische, auch in kommerzieller Hinsicht bemerkenswerte Boom des amerikanischen Independent-Kinos mit Filmen wie „Sex, Lügen und Video“ und „Pulp Fiction“ ist nun schon seit Jahren vorüber. Einige der großen Hoffnungsträger der 90er Jahre sind mittlerweile fest etabliert und haben Hollywood ihren Stempel aufgedrückt. Um viele andere ist es sehr ruhig geworden, und ein paar haben eine neue Heimat bei den amerikanischen Pay-TV-Sendern HBO und Showtime gefunden. Doch das unabhängige Kino lebt weiter, nun allerdings wieder unterhalb des Radars der Studios, die ironischerweise eine Zeit lang alle ihre eigenen Independent-Abteilungen hatten, und der großen Verleiher. Die jungen unabhängigen Filmemacher unserer Tage befinden sich somit in einer ähnlichen Situation wie einst John Cassavetes und die anderen Independent-Pioniere in den Sechzigern und Siebzigern. Sie arbeiten mit minimalem Budget, beschäftigen nicht selten Laien- oder semiprofessionelle Darsteller und drehen an Orten, um die aufwendigere Produktionen in der Regel einen großen Bogen machen. David Zellners unterkühltes Provinzporträt „Kid-Thing“ ist eine dieser Arbeiten, in denen das Independent-Kino seine Wiedergeburt aus dem Geist eines zunächst einmal rein regionalen Filmschaffens erlebt und dabei zu einer überwältigenden Authentizität findet.

    Niemand kümmert sich um die zehnjährige Annie (Sydney Aguirre). Ihr Vater, der Farmer Marvin (Nathan Zellner), ist viel zu sehr mit sich und seinen Tieren beschäftigt. Und wenn er mal nicht seine Ziegen füttert oder ein Huhn mit pinkfarbenen Kreidestrichen hypnotisiert, dann nimmt er entweder an Destruction Derbys teil oder hängt mit seinem Freund Caleb (David Zellner) im heruntergekommenen Wohnzimmer des Farmhauses ab. Irgendwie scheint er Annie durchaus zu lieben, aber er kann einfach nicht die Energie aufbringen, sich um sie zu kümmern. Also zieht das Mädchen ziellos durch die Gegend. Einmal behauptet sie, die Schule sei wegen eines Lecks in der Gasleitung geschlossen. Aber das kommt selbst Marvin seltsam vor. So reiht sich ein langweilig-leerer Tag an den nächsten. Annie schlägt indessen ihre Zeit tot, mal mit kleinen Ladendiebstählen, mal mit Zerstörungsorgien, die weder vor Tierkadavern noch vor Geburtstagstorten Halt machen. Bei einem ihrer Streifzüge durch den Wald hört sie dann die Hilferufe einer Frau, die in einen alten, ausgetrockneten Brunnenschacht gestürzt ist.

    1970 skandierte die Band Ton Steine Scherben „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Das könnte in gewisser Hinsicht auch Annies Motto sein. Nur ahnt dieses sich selbst überlassene Mädchen etwas, dass die Spontis und Revoluzzer der vergangenen Jahrzehnte niemals wahrhaben wollten. Letztlich gibt es nichts, was einen Menschen nicht kaputt macht. Also wirft Annie mit Brötchen-Teig auf fahrende Autos, beschießt den Kadaver einer Kuh mit Paintball-Kugeln, reißt einer Pflanze mit einer Zange die Dornen aus, zerquetscht eine Made mit bloßen Händen, traktiert eine Geburtstagstorte genauso wie eine einfach am Straßenrand abgeladene Toilettenschüssel mit einem Baseballschläger oder fegt alte Bücher und Hefte mit dem Arm aus Regalen. In einer Welt, in der alle nur so vor sich hin dämmern, an Körper und Seele versehrt, hat eben nichts mehr Sinn und Wert. Eine durch und durch kindliche Neugier scheint Annie, die von Sydney Aguirre mit einer bemerkenswerten Zurückhaltung verkörpert wird, bei ihren Zerstörungsexperimenten zu erfüllen. Jeder Schlag und jeder Paintball-Schuss ist eine Abrechnung mit der Welt und doch auch ein Ausdruck von Sehnsucht, als ob die Zerstörung etwas offenbaren könnte, das zuvor verborgen war.

    Mit seinen ungeschminkten Bildern von tristen Farmen, verwesenden Tieren, scheußlichen Supermärkten und illegalen Müllkippen, die Kameramann Nathan Zellner immer wieder durch fast schon lyrische Naturaufnahmen und Himmelsbilder kontrastiert, steht David Zellners vierter Langfilm eindeutig in der gleichen Tradition wie David Gordon Greens „George Washington“, Jeff Nichols’ „Shotgun Stories“ und die Filme von Matthew Porterfield („Putty Hill“). Ein wenig erinnert dieses lakonische Drama eines Mädchens, das trotz allem genau weiß, was es tut, auch an die Arbeiten von Larry Clark („Kids“) und Harmony Korine („Spring Breakers“). Wie alle diese uramerikanischen Chronisten von Verfall und Verwahrlosung urteilen auch die Zellner Brothers niemals über ihre Protagonisten. Sie begleiten Annie einfach bei ihren Streifzügen und blicken wie sie mit Augen, die schon alles gesehen zu haben scheinen, auf eine im Innersten zerbrochene Welt. Was sie sehen, mag zunächst dumpf und hässlich, ausweglos und zerstörerisch erscheinen. Aber nach und nach offenbart sich dem vorurteilsfreien Blick noch etwas anderes jenseits der traurigen Oberfläche: Eine seltsame Schönheit, die allem innewohnt, und eine magische Tiefe, die lockend aus den allgegenwärtigen Brüchen und Rissen herauf scheint.

    Esther, die Gefallene, auf die Annie zufällig stößt, ist eine Botschafterin dieser zweiten, verborgenen Welt. Sie bittet um Hilfe und schreit nach Rettung. Doch Annie bleibt skeptisch. Sie sagt niemanden etwas von der Frau in dem Loch und verweigert ihr damit die Rückkehr an die Oberfläche. Dennoch bringt sie ihr, Essen und Trinken sowie ein Funkgerät, mit dem sie auch über weite Entfernungen mit ihr in Kontakt bleiben kann. Gelegentlich beschimpft Annie die unsichtbar bleibende Frau als Teufel. Nichtsdestotrotz schlägt sie ihr schließlich dann doch noch ein Geschäft vor, sozusagen einen faustischen Pakt, der alles verändern könnte. Aber letztlich bleibt offen, ob Esther tatsächlich dort unten im Dunkel gefangen ist, oder ob sich Annie das alles nur eingebildet hat. Entscheidend ist alleine der Lockruf der Tiefe.

    Fazit: Seit einigen Jahren treibt das amerikanische Independent-Kino wieder kleine, aber dafür umso bemerkenswertere Blüten. Eine davon ist der vierte Langfilm des in Austin, Texas, lebenden und arbeitenden Filmemachers David Zellner. Sein ebenso irritierendes wie poetisches Porträt eines zehnjährigen Mädchens, das mehr oder weniger wortlos gegen die ganze Welt rebelliert, hat etwas von einem dunklen Loch, das seinen Betrachter nach und nach in sich hineinzieht. Zellner blickt in den Abgrund des modernen Lebens, und je tiefer dieser Blick geht, desto verlockender wird das Nichts, das dem Filmemacher entgegenstarrt.

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