Es ist Nacht. Die Szenerie ist in einen unwirklichen Schimmer getaucht. Die Lichter der Großstadt – mal faszinieren sie, mal blenden sie. Solange das Liebesglück anhält, könnte man glatt im Farbenmeer baden. Ist jedoch eine geliebte Person verschwunden, wirkt alles grell und kalt, plötzlich findet man sich mitten im Getümmel und umgeben von wildfremden Menschen wieder. So also sieht die brasilianische Metropole São Paulo mit den Augen melancholischer Youngster betrachtet aus, zumindest laut Roberto Moreira. Sicher, ein solches Großstadt-Bild haben vor ihm schon andere Regisseure gezeichnet und zwar nicht zu knapp. Dennoch ist der Episodenfilm „Paulista – Geschichten aus São Paulo" sehenswert. Vor allem aufgrund der inspirierenden Selbstverständlichkeit, mit der Moreira von Beziehungskonstellationen erzählt, mit denen man in bestimmten Gesellschaftskreisen immer noch seine liebe Mühe hat. Hetero-, homo- oder transsexuell, das ist hier kein in irgendeiner Weise wesensprägendes Merkmal. Entscheidend ist für Moreira vielmehr die Frage, die alle Liebenden gleichermaßen betrifft: „Quanto Dura o Amor?" („Wie lange hält Liebe an?") – so auch der passendere Originaltitel der brasilianischen Produktion.
Die quirlige Marina (Silvia Lourenço) verlässt ihren anhänglichen Freund Caio (Sergio Guizé), um sich in São Paulo als Schauspielerin zu versuchen. Sie zieht bei der erfolgreichen Scheidungsanwältin Suzana (Maria Clara Spinelli) ein, die sich für ihren Kollegen Gil (Gustavo Machado) interessiert. Bei einem Ausflug in einen nahegelegenen Nachtclub verliebt sich Marina Hals über Kopf in die charismatische Sängerin Justine (Danni Carlos) und beginnt mit ihr eine leidenschaftliche Affäre. Doch auch der geheimnisvolle Nuno (Paulo Vilhena) hat eine ganz besondere Beziehung zu Justine. Derweil wünscht sich Schriftsteller Jay (Fábio Herford), der wie die anderen an der Avenida Paulista – einer der bedeutendsten Straßen von São Paulo – wohnt, nichts sehnlicher als eine feste Beziehung mit der Prostituierten Michelle (Leilah Moreno)...
Bei derartigen Liebeswirren verwundert es nicht, dass „Paulista – Geschichten aus São Paulo" ein betont melancholischer Film ist. Das beginnt schon bei der programmatischen Musikauswahl: Radioheads „High and Dry" zieht sich motivisch durch den ersten Teil des Dramas um die verträumte Marina, klassische Klaviermusik begleitet die konservative Suzana und ihren Verehrer Gil und beim introvertierten Jay bleibt es still. Ähnlich kontrastreich ist auch die Farbregie, über welche die Figuren und ihre jeweiligen Stimmungen voneinander abgegrenzt werden. Verglichen mit lässigeren Gestalten wie Marina und Jay, die beide einem Künstlerberuf nachgehen, ist Scheidungsanwältin Suzana die Bodenständige in dunklem Kostüm und einer Wohnung in Erdfarben. Wie die anderen ist jedoch auch sie gefangen im ständigen Wechsel zwischen buntem Nachtleben und blass-gräulichem Alltag, zwischen Euphorie und Lebenslust einerseits und Angst und Enttäuschung andererseits. Zwischen diesen Gegensätzen findet Moreira die zerbrechliche Lebenswirklichkeit seiner Protagonisten. Wenn sie ihr Glück finden, dann dem zügigen Erzähltempo entsprechend immer nur für kurze Augenblicke.
Diese Stimmungshochs und –tiefs werden stets auch durch Marcelo Trottas Kameraführung unterstrichen. Freudentaumel begleitet er mit verwackelten Handkameraaufnahmen, ernste Gespräche filmt er diskret und ruhig. Mit diesen beiden Attributen lässt sich auch der Umgang des Regisseurs mit seinen Figuren beschreiben. Wenn Moreira etwa eine seiner Protagonistinnen ängstlich vor ihrem Schwarm verheimlichen lässt, früher mal ein Mann gewesen zu sein, geht es ihm nicht um ihre sexuelle Identität im Speziellen sondern um die Last von Biografien im Allgemeinen. Das trifft auch auf Michelles und Jays schwieriges Verhältnis zu – nicht ihrer Prostitution gilt hier das Augenmerk, sondern seinen Unsicherheiten im Umgang damit. Wie lange hält Liebe an, fragt Moreira, wenn ihr im engen Korsett heteronormativer Spielregeln die Freiräume abgeschnürt werden? Die Antwort darauf mag immer wieder aufs Neue unbefriedigend, zuweilen auch furchtbar deprimierend ausfallen. Sich damit abzufinden, das ist für Moreira jedoch keine Option. Seine Figuren dürfen ohne Bedingungen und Einschränkungen lieben – und so ist „Paulista" auch keineswegs ein deprimierender Film geworden, sondern vielmehr einer über die Würde des Begehrens.
Fazit: „Paulista – Geschichten aus São Paulo" ist ein atmosphärisch inszeniertes und zuweilen tief melancholisches Großstadt-Drama, das vor allem mit einer einfühlsamen Erzählperspektive und einem sachlichen Blick für die Problematik sexueller Normen überzeugt.