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    This Ain't California
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    This Ain't California
    Von Tim Slagman

    Jeder Dokumentarist steht vor der Frage, wie er sich seinem Material am besten nähert. Wie viel Herzblut, wie viel persönliches Anliegen, wie viel Distanz in einem Film stecken darf – oder sollte. Regisseur Marten Persiel, der mit „This Ain't California" sein Kinodebüt vorlegt, hat eine gelungene Gratwanderung gewagt: Einerseits scheint er sich den Erinnerungen seiner Protagonisten an ihre Jugend als Skateboard-Fahrer in der DDR vollkommen auszuliefern. Aber immer wieder legt er auch das Gefertigte und das Unfertige, das „Work in progress"-Mäßige seiner liebevollen Rekonstruktion einer untergegangenen Ära offen. Herausgekommen ist ein Film, der Lust macht auf die Offenheit, die Ungewissheit, das Potenzial – des Jungseins, sicher, aber auch der filmischen Annäherung an eine zunächst etwas fremde und am Ende dafür dann etwas vertrautere Welt.

    Denis ist tot. Für seine Freunde von früher ist das natürlich ein Schock, auch wenn die meisten ihn längst aus den Augen verloren haben. Denis ist als Soldat in Afghanistan ums Leben gekommen, und das macht den Jungs und Mädels, mit denen er in den 80er-Jahren in Ost-Berlin über den Alexanderplatz geskatet ist, klar: Eigentlich ist da ein Fremder gestorben. Nicht der Denis, den sie auch Panik nannten, der Leistungsschwimmer hatte werden sollen und dann vor dem gestrengen Vater mit seinem besten Kumpel in die Hauptstadt der DDR geflohen ist. Der so scheinbar radikal sein eigenes Leben gelebt hat, ein Naturtalent auf dem Board, ein Rebell überall. Und so beginnt ein Erinnerungsprozess an die gemeinsame Zeit zwischen Kindheit, Elternhaus, erster Liebe, Freiheit auf dem Brett und daneben sowie dem Auge der Staatsmacht, das über all dies wachte.

    Die Vorstellung, das Skateboarden sei als Jugendbewegung immer schon ein Medium des Aufbegehrens gewesen, oder zumindest der Ausdruck persönlicher Freiheit, ist so naheliegend wie romantisch und Marten Persiel geht es nicht unbedingt darum, sie zu widerlegen. Da schwärmten und schwärmen die Jungs aus dem Osten vom Zusammenhalt, der anarchischen Freude und ihrem Traum vom - natürlich idealisierten - Westen. Im Kontrast zu diesen Beteuerungen steht der Schauplatz, denn Persiel lässt einige ehemalige Protagonisten der Skater-Clique nach Denis‘ Beerdigung - so suggeriert es jedenfalls die Montage - zu einem spontanen Sit-In in einem alten Hinterhof zusammenkommen, wo sie bei Bier und Zigaretten die Vergangenheit heraufbeschwören: Die Menschen machen ihre Erinnerungen lebendig inmitten der graubraunen Wirklichkeit von Rost, Stein und Verfall.

    Persiel ist es gelungen, erstaunliches und ausdrucksstarkes historisches Material zutage zu fördern. So gibt es jede Menge Originalaufnahmen auf Super 8, die vieles nachzeichnen von den ersten Geh-, oder besser: Rollversuchen, auf behelfsmäßig zusammengezimmerten Brettern bis hin zum Panorama des Alexanderplatzes, das von bunten Vögeln mit wilden Manövern und geschickter Akrobatik beherrscht wird. Dabei verlässt sich der Regisseur aber nicht blind auf den Charme der alten Bilder noch auf die Worte seiner Zeitzeugen, sondern macht die Vieldeutigkeit und die Subjektivität von Äußerungen und Perspektiven immer wieder klar. So liegen über den Aufnahmen gleich mehrere Stimmen, die sich mal ergänzen, mal widersprechen: Denis‘ bester Kumpel aus Kindertagen und eine Skate-Journalistin aus dem Westen, die sich spontan in der Ostberliner-Clique zuhause fühlte – beide sitzen auch im Heute, ums Lagerfeuer im Hinterhof – steuern den Großteil der Erzählung bei.

    Und da, wo es keine Bilder von damals gibt, hat der Animationskünstler Sasa Zivkovic Tableaus und kleine Kurzfilme erstellt, die Lücken füllen und allein durch ihre Machart darauf verweisen, dass jede Erinnerung, jede Rekonstruktion ein Akt der Neuerschaffung ist, notwendig subjektiv und notwendig trügerisch. Und so wird in „This Ain't California" mit der großen Emotion, die alle Beteiligten vermitteln, mit seinen faszinierenden Bildern von Sport, Akrobatik, Party und mit dem passend offensiven Soundtrack von den Ärzten bis zu Anne Clark natürlich eine Jugendbewegung gefeiert, die bisher noch weitgehend unentdeckt geblieben ist, was den Film zu einem großen Vergnügen macht. Aber seine ganze Stärke bekommt er erst durch die Vielstimmigkeit, mit der hier die Autorität des dokumentarischen Erzählens unterwandert wird. Und seine ganze Wirkung entfaltet sich erst in der Melancholie, die jeder nachvollziehen kann, der einmal feststellen musste, dass der ehemals beste Freund ein Fremder geworden ist.

    Fazit: Mit einer verblüffenden Fülle an Archivmaterial erzählt Marten Persiel in „This Ain't California" vor allem von einem Lebensgefühl, vom jugendlichen Sturm des Aufbruchs. Er tut dies schwungvoll und mit Herz, zugleich macht sein reflektierter Umgang mit den Mitteln des Dokumentarischen Persiels Porträt der Skaterkultur in der DDR geradezu zu einem Lehrstück zum filmischen Umgang mit Wirklichkeit.

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