„Watchtower“, der zweite Spielfilm der Regisseurin Pelin Esmer („10 to 11“), ist ein Drama von großer Schlichtheit und emotionaler Kraft. Im Mittelpunkt des im ländlichen Anatolien angesiedelten Films stehen dunkle Geheimnisse in der Vergangenheit zweier einsamer Seelen. Das räumliche und inhaltliche Zentrum der Geschichte bildet dabei ein einsam in den Wäldern stehender Wachturm mit starkem Symbolgehalt. Reduziert, fast schon dokumentarisch erzählt die Regisseurin dabei auch vom Niedergang des Patriarchats.
Ein Fernreisebus fährt nachts durch den gebirgigen Norden der Türkei. Am nächsten Morgen steigt eine einzelne Person in dem kleinen Städtchen Tosya aus: Es ist Nihat (Olgun Simsek), der hier eine neue Stelle als Waldbrand-Wächter antritt. Zu Fuß läuft er den steilen Waldweg zu einem alten Wachturm hoch, den er ab sofort als einzige Person bewohnen wird. In der Einsamkeit des Waldes bestehen seine einzigen menschlichen Kontakte in den Funkgesprächen mit seinen Kollegen, die ihrerseits ebenfalls auf abgelegenen Wachtürmen ihren Dienst tun. Bei einem seiner raren Besuche in Tosya lernt er die junge Seher (Nilay Erdönmez) kennen. Die Literaturstudentin arbeitet als Reisebegleiterin des Busunternehmens, mit dem auch Nihat an diesen Ort gekommen ist. Nach und nach stellt sich heraus, dass sie beide eine schwere Last mit sich herumtragen, der sie an diesem abgelegenen Ort zu entkommen hoffen. Doch bald eskaliert die Situation und sowohl Seher als auch Nihat müssen sich entscheiden, in welche Richtung ihr gemeinsames Leben nehmen soll...
Pelin Esmer verbindet in „Watchtower“ einen naturalistischen Erzählstil mit starker Symbolik. Fast dokumentarisch wirkt der Film durch den Verzicht auf Stilisierung und erhält eine Bodenständigkeit, die gut zur ländlichen Türkei passt. Die Stadt als Symbol der Zivilisation taucht im Film fast nur in Gesprächen oder im Radio auf. Sie steht für Fortschritt und für die Erosion traditioneller gesellschaftlicher Strukturen. In Tosya dagegen herrschen weiterhin archaische Gesellschaftsstrukturen, in denen der Mann über die Frau, die Alten über die Jungen und die Vorgesetzten über ihre Mitarbeiter herrschen.
In diesem erzkonservativen patriarchalischen Umfeld wirken Seher und Nihat denkbar fehl am Platz. Seher ist eine junge attraktive Studentin, der es sichtlich schwer fällt, ihren grobschlächtigen Chef zu respektieren. Schnell stellt sich die Frage, was sie eigentlich hierher getrieben hat. Nihat erscheint hingegen zunächst selbst als ein relativ schlichtes Gemüt und ist zudem von einer Wortkargheit, die gut zu seiner einsamem Arbeit zu passen scheint. Doch schnell zeigt sich, dass Nihat jede Kleinigkeit, die er sagt und tut genau durchdenkt. Hinter seinem dicken Schnurrbart und seinen einfachen Gesichtszügen verbirgt sich kein regressiver Macho, sondern eine feinfühlige Seele.
Ähnlich wie in Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ beobachtet Nihat mit seinem Fernglas seine Umgebung. Im Gegensatz zum von James Stewart gespielten Fotoreporter, der aufgrund eines Gipsbeins an seine Wohnung gefesselt ist, hat sich Nihat jedoch freiwillig in sein Exil auf dem Berg begeben. Zudem ist Nihat auch kein Voyeur und wirklich Interessantes gibt es für ihn ebenfalls nicht zu beobachten. So lautet seine zu festen Zeiten per Funk durchgegebene Lagebeschreibung stets: „Alles normal“. Als dann eines Tages doch einmal donnernd der Blitz in einen Baum einschlägt, lässt dies Nihat dennoch gleichgültig: Zu diesem Zeitpunkt ist längst nichts mehr normal.
Fazit: „Watchtower“ ist ein formal einfaches Drama von archaischer Kraft, das von der scheinbar unbeweglichen Oberfläche eines uralten Patriarchats erzählt, die durch eine donnernde Explosion zerstört wird.