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    Cannibal
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Cannibal
    Von Ulf Lepelmeier

    Faszinierende Persönlichkeit und blutrünstiger Unmensch in einem: Der von Romanautor Thomas Harris erdachte Serienmörder Hannibal Lecter ist wohl der bekannteste fiktive Kannibale. Auch der stets elegant gekleidete Protagonist im spanischen Drama „Cannibal“ hat eine Vorliebe für Menschenfleisch, doch würde Dr. Lecter seinen Kollegen wohl als zu gewöhnlich empfinden. Carlos ist ein unaufgeregter, stets auf Präzision bedachter Herrenschneider, der die Alltäglichkeit seines Lebens zu schätzen weiß und sich vor allem in der Rolle des stillen Beobachters wohl fühlt. So ist der von Regisseur Manuel Martín Cuenca inszenierte Film denn auch weder blutiger Thriller noch Horrorfilm, sondern vielmehr ein bedachtes Arthousedrama, in dem die leisen Töne dominieren. Während Horrorfans „Cannibal“ als zu zäh verschmähen werden, werden geduldige Zuschauer mit einer erstklassig bebilderten, bedächtigen Annäherung an einen verschlossenen Mörder belohnt.

    In Granada verdient Carlos (Antonio de la Torre) sein Geld als Schneider für Maßanzüge und scheint ein unscheinbares, etwas einsames Leben zu führen. Doch in ihm brennt ein Verlangen nach Menschenfleisch, das ihn immer wieder dazu veranlasst, Frauen zu töten und sie in seiner Berghütte auszunehmen, um sich dann für die nächste Zeit von ihrem Fleisch zu ernähren. Als Carlos temperamentvolle Nachbarin Alexandra spurlos verschwindet, taucht plötzlich deren Schwester Nina (Olimpia Melinte in einer Doppelrolle) auf und bittet ihn, ihr bei der Suche nach Alexandra zu helfen. Diese hat ihr Geld gestohlen, das eigentlich für die Eltern in Rumänien bestimmt gewesen war. Carlos empfindet Sympathie für die verantwortungsvolle Nina und lässt sie immer näher an sich herankommen...

    Mit einer langen statischen Einstellung von einer vereinsamten Tankstelle, an der ein Pärchen ankommt, bevor es nach einer gewissen Zeit wieder weiterfährt, beginnt Regisseur Manuel Martín Cuencas („La mitad de Óscar“) ungewöhnlicher Kannibalenfilm. Plötzlich bewegt sich die Kamera und es wird deutlich, dass wir der Perspektive einer Person folgen, die das Pärchen beschattet. Carlos hat die Frau als sein nächstes Opfer ausgewählt und provoziert einen Unfall, um die Verletzte später aus dem Autowrack zu bergen und in seiner verlassenen Berghütte zu zerstückeln. Bevor es zu dieser blutigen Tat kommt, blendet Cuenca aber aus. Die Darstellung der Vorbereitungsmaßnahmen des peniblen Schneiders und dessen kaltblütige Planung des Verbrechens reichen auch bereits aus, um Unwohlsein zu erzeugen. Diese erste Sequenz verdeutlicht dabei die distanzierte Beobachtungshaltung, welche der Regisseur in seinem Film einschlägt, sowie auch den bewussten Verzicht auf blutige Gewaltdarstellungen.

    Antonio de la Torre („King of the City“) gibt den wortkargen Kannibalen als kalten, berechnenden Mann, dessen innere Dämonen, wie auch die Beweggründe für seine grausamen Taten, sich nur schwerlich erahnen lassen. Zu normalen zwischenmenschlichen Beziehungen in seinem bisherigen Leben nicht fähig, gipfelt bei Carlos körperliches Verlangen stets in wortwörtliche Lust nach dem Fleisch der begehrten Frauen. Dabei bleibt die Vergangenheit des Kannibalen genauso unergründet, wie seine wirkliche Gefühlswelt, die de la Torre in seinem gekonnten, äußerst zurückgenommenen Spiel immer nur kurz aufflackern lässt. So ist Carlos Beziehung zu Nina denn auch nur durch kleine Gesten und Andeutungen gezeichnet.

    Die von Kameramann Pau Esteve Birba („Animals“) in edlen Bildern und langen Einstellungen festgehaltene Geschichte, die ohne Fremdtonuntermalung auskommt, bezieht seine feinen Spannungsmomente denn auch aus den Interaktionen des Schneiders mit den beiden charakterlich so unterschiedlichen Schwestern. Während Alexandra eine selbstbewusste Frau ist, die ihren Charme gezielt einzusetzen weiß, ist Nina, die sich immer im Schatten ihrer Schwester verstand, von ihrem ruhigen Persönlichkeitsbild her Carlos viel näher. Olimpia Melinte („Killing Time – Zeit zu sterben“) gelingt es dabei beiden Schwesterfiguren etwas Eigenes zu verleihen, was auch das Interesse des Schneiders an den zwei Frauen verständlich macht. Doch auch wenn Regisseur Cuenca seine Figuren und ihre Beziehungen zueinander penibel observiert, führen der distanzierte Blickwinkel der Inszenierung und das unzugängliche Wesen des Protagonisten dazu, dass die Hauptfigur bis zum Abspann schwer greifbar bleibt.

    Fazit: „Cannibal“ ist ein in sich ruhendes Arthouse-Drama über einen verschlossenen Mann und dessen monströs-unnatürliche Fleischeslust, das keine großen Schockmomente oder Offenbarungen, sondern die feine Beobachtung eines unscheinbar agierenden Kannibalen bietet.

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