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    Chaos Walking
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Chaos Walking

    Längst nicht der erwartbare Totalschaden

    Von Julius Vietzen

    Zehn Jahre hat der Weg vom Buch ins Kino gedauert, nachdem sich das US-Studio Lionsgate bereits 2011 (!) die Filmrechte an Patrick Ness‘ „Chaos Walking“-Trilogie* sichern konnte. Nachdem zunächst ausgerechnet Avantgarde-Querkopf Charlie Kaufman („Vergiss mein nicht“) für das Skript angeheuert wurde, kamen im Anschluss noch viele weitere Autor*innen an Bord, bis es sechs Jahre später endlich losgehen konnte. Doch nach dem Abschluss der Dreharbeiten im November 2017 (!!) setzte das Studio noch einmal Nachdrehs an, die dann aufgrund der vollgestopften Terminkalender der Stars Daisy Ridley („Star Wars 9“) und Tom Holland („Avengers 4“) allerdings erst im April 2019 (!!!) starten konnten.

    Die vielen Verzögerungen haben nun dafür gesorgt, dass die 100-Millionen-Dollar-Produktion, die ursprünglich zum Höhepunkt der von „Twilight“ und „Die Tribute von Panem“ ausgelösten Young-Adult-Welle anlaufen sollte, nun erst in die Kinos kommt, nachdem der Trend schon lange wieder abgeklungen ist. Doch von der komplizierten und langwierigen Produktionsgeschichte ist dem fertigen Film erstaunlicherweise gar nicht so viel anzumerken: „Chaos Walking“ von Regisseur Doug Liman ist eine betont freie, durchaus sehenswerte Adaption, die als eigenständiger Film mit einigen wirklich spannenden inszenatorischen Einfällen überzeugt, selbst wenn sie nur selten die emotionale Tiefe der Buchvorlage erreicht.

    Todd Hewitt (Tom Holland) muss wie alle Männer auf New World damit leben, dass alle seine Gedanken für jeden sichtbar um seinen Kopf schwirren.

    Im 23. Jahrhundert hat die Menschheit damit begonnen, den fernen Planeten New World zu besiedelt. Allerdings gibt es da ein Problem, denn auf New World sind die Gedanken aller männlichen Bewohner – in Form des sogenannten Noise – für alle hör- und sichtbar. Todd Hewitt (Tom Holland) lebt seit dem Tod seiner Eltern mit seinen Ziehvätern Cillian (Kurt Sutter) und Ben (Demián Bichir) in der Stadt Prentisstown, in der es keine Frauen mehr gibt, seitdem diese bei einem Krieg mit den einheimischen Spackle getötet wurden.

    Doch dann taucht eines Tages Viola (Daisy Ridley) in Prentisstown auf. Sie gehört zur Crew eines abgestürzten Raumschiffs, das die Lage auf New World erkunden und Rückmeldung an ein Kolonisationsschiff im Orbit geben soll. Bürgermeister David Prentiss (Madds Mikkelsen) sieht darin eine Bedrohung und will die Kolonisten nach der Landung töten. Viola und Todd fliehen, um von einer nahegelegenen Siedlung aus die Crew des Raumschiffs zu warnen. Dabei ist Todd eigentlich in dem Glauben aufgewachsen, dass Prentisstown die einzige Siedlung auf New World ist – und das ist längst nicht das einzige Geheimnis, das die beiden während ihrer gemeinsamen Flucht aufdecken...

    Das ist neu: Jetzt kann man den Lärm auch sehen

    „Chaos Walking“ beginnt mit einem eingeblendeten Zitat, das den Titel des Films erklärt: Männer, deren ungefilterte Gedanken hörbar sind, sind Chaos auf zwei Beinen, also Chaos Walking. Im Anschluss gehen der auch selbst für das Drehbuch verantwortlich zeichnende Patrick Ness, sein Co-Autor Christopher Ford („Spider-Man: Homecoming“) sowie Regisseur Doug Liman („Edge Of Tomorrow“) jedoch schnell sehr frei mit der Buchvorlage um. Die Änderungen betreffen dabei nicht nur den Plot, der sich nur in groben Zügen am ersten Romanband „New World: Die Flucht“ orientiert, sondern vor allem auch das Alleinstellungsmerkmal der Reihe: den Noise.

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    In „Chaos Walking“ spielt der Noise anders als im Buch bei der Exposition, also dem Vermitteln von Gedanken, Gefühlen und Fakten, nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen hat Doug Liman das Konzept weitergedacht, um das in der Vorlage rein akustische Phänomen für das visuelle Medium Film anzupassen: Was in den Romanen noch mit verschiedenen Schriftarten in verschiedenen Größen symbolisiert wird, entpuppt sich in „Chaos Walking“ als sichtbare Wolke voller Bilder und Stimmen, die den Kopf der Männer auf New World umgibt.

    Viola (Daisy Ridley) hat nach ihrem Absturz auf New World kaum eine Minute der Ruhe, in dem sie nicht von irgendjemanden gejagt wird.

    Und damit nicht genug – im Film kann der Noise nun auch als Waffe oder zur Täuschung eingesetzt werden: Als Viola nach ihrem Absturz auf New World vor den Männern von Prentisstown flieht, sieht sie sich auf einmal von einem Zaun umgeben, der sich dann jedoch als mentale Noise-Projektion des Bürgermeisters entpuppt.

    Und wenn doch mal Gedanken oder Gefühle zum Ausdruck kommen sollen, dann lässt Doug Liman sie seine männlichen Figuren nicht einfach aussprechen, sondern visualisiert sie geschickt: Nach gelungener Flucht aus Prentisstown sitzen Todd und Viola etwa nebeneinander an einem Baum und unterhalten sich, bis sie sich plötzlich zu ihm rüber beugt und ihn leidenschaftlich küsst. Und während man sich als Zuschauer*in aufgrund dieser wenig überzeugenden Leinwand-Romanze noch vor den Kopf schlagen will, entpuppt sich das Techtelmechtel schnell als reine Fantasie von Todd, der dann auch prompt von der erstaunt und verstört neben ihm sitzenden Viola zurechtgewiesen wird:

    Die komplizierte Produktionsgeschichte von „Chaos Walking“ spürt man am ehesten bei einem Blick auf die Cast-Liste: Mit Óscar Jaenada („Rambo 5“) wurde beispielsweise ein Schauspieler für eine im Buch bedeutende Nebenrolle verpflichtet, von der im fertigen Film nun aber jede Spur fehlt. Diese und weitere Änderungen erweisen sich als zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite ist „Chaos Walking“ bei einer Laufzeit knapp 110 Minuten angenehm konzentriert und schwungvoll erzählt, auch weil die im Buch deutlich längere Flucht von Viola und Todd auf eine Handvoll Szenen verdichtet wird. Auf der anderen Seite geht durch die Kürzungen aber auch einiges an emotionaler Kraft verloren.

    Die Emotionen werden zur Nebensache

    Am deutlichsten wird das bei einer Sequenz in der Mitte des Films: Todd und Viola werden weiterhin von den Männern aus Prentisstown verfolgt und fliehen schließlich in einem Boot eine Stromschnelle herunter, während sie von einem der Jäger auf seinem Pferd (im Wasser!) verfolgt werden. Eine packende Szene, bei der der Action-erfahrene Liman trotz tosenden Fluten und hektischen Schnitten nicht die Übersicht verliert, was auch am Einsatz von Daisy Ridley und Tom Holland liegt, die offensichtlich einen Großteil der Stunts selbst durchgeführt haben.

    Die direkt anschließende Szene, bei der ein Weggefährte von Todd und Viola getötet wird, müsste dann eigentlich so etwas wie der emotionale Höhepunkt der Sequenz sein. Allerdings fällt der erwartete Punch komplett aus, weil der Beziehung zwischen den Figuren vorab praktisch gar keine Zeit eingeräumt wurde. So lässt einen der eigentlich traurige Moment erschreckend kalt – ein Problem, das so ähnlich übrigens auch auf die Bösewichte zutrifft.

    Bürgermeister David Prentiss (Madds Mikkelsen) hat keinen Bock auf die neuen Siedler von der Erde…

    Mit Mads Mikkelsen („Phantastische Tierwesen 3“) und David Oyelowo („Selma“) als manischem Priester Aaron hat Doug Liman hier zwar zwei namhafte, versierte Darsteller zur Verfügung, die aus ihren Bösewicht-Rollen aber trotzdem enttäuschend wenig rausholen: Mikkelsen bekommt als Bürgermeister im Film sogar wesentlich mehr Szenen als im Buch, strahlt aber dennoch kaum mal eine angemessen diabolische Bedrohlichkeit aus. Und Aaron bleibt trotz fanatisch-feuriger Noise-Aura sogar komplett blass, was auch an seiner unklaren Motivation liegt. Schade, denn im Buch hat die Figur eine fast schon übernatürliche Präsenz, wenn sie sich trotz schwerster Verletzungen immer wieder an die Fersen der beiden Hauptfiguren heftet („The Revenant“ lässt grüßen).

    Fazit: „Chaos Walking“ ist kein Totalausfall, wie man angesichts der schwierigen Produktionsgeschichte hätte vermuten können. Der handwerklich gut gemachten Bestseller-Adaption, die inszenatorisch und kreativ eine Menge aus dem Konzept des Noise herausholt, fehlt es allerdings hier und da an Herz.

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