Mögen muss man ihn nicht, diesen Lars von Trier und seine höchst ambivalenten Skandalwerke. Sein persönlicher schwarzer Humor ist nicht immer intelligent (man denke nur an seine missverstandenen Hitler-Witzchen beim Filmfestival in Cannes), auch seinen Hang zur Depression kann und will er in seinen Filmen kaum verbergen, dennoch (oder gerade deshalb?) gibt es derzeit nur wenige Regisseure, deren Werke interessanter sind als seine. Das dänische Enfant terrible haut immer wieder Kunstkino-Brocken raus, an denen die Filmwelt ganz schwer zu kauen hat: Sie sind radikal, provokant und ohne Kompromisse, aber oft auch auf ihre Art wunderschön. Und wenn von Trier mit der ihm eigenen Ironie ankündigt, einen „echten Pornofilm“ zu drehen, hyperventiliert die Fan-Gemeinde in freudiger Erregung. Was er dann in Form des Zweiteilers „Nymp()maniac“ tatsächlich gedreht hat, ist natürlich kein Pornofilm, sondern ein typischer von Trier, der mit Hardcore-Sexszenen aufgemotzt ist. Seine Erzählung über das ausschweifende Sexleben einer 50-jährigen Nymphomanin ist ein radikales Psycho-Drama, eine scharf und schonungslos gezeichnete Charakterstudie mit dem gewissen Extra. Dabei ist „Nymph()maniac“ trotz der Zweiteilung definitiv EIN Film, der nach 110 Minuten (in der Vierstunden-Version), bzw. 145 Minuten (in der Fünfeinhalb-Stunden-Festivalfassung) unterbrochen wird. Da „Nymph()maniac 2“ auch in Deutschland erst einige Wochen nach Teil 1 in die Kinos kommt, geht es in dieser Kritik zunächst nur um „Nymph()maniac 1“.
Als der alternde Junggeselle Seligman (Stellan Skarsgard) eines kalten Winterabends auf dem Weg nach Hause kurz vor seiner Haustür eine übel zusammengeschlagene Frau namens Joe (Charlotte Gainsbourg) aufliest, verweigert diese den nötigen Gang ins Krankenhaus. Seligman nimmt sie auf und bringt sie in seine Wohnung, wo Joe beginnt, ihrem Retter in bemerkenswerter Offenheit ihre Lebensgeschichte zu erzählen: Schon früh merkt das Mädchen (nacheinander: Ronja Rissmann, Marja Arsovic, Sofie Kasten, Ananya Berg, ab dem Teenageralter: Stacy Martin), dass es anders ist. Ihr Hunger nach sexueller Befriedigung ist kaum zu bändigen. So wettet sie mit ihrer Schulfreundin K (Sophie Kennedy Clark) um eine Tüte Bonbons, wer sich erfolgreicher durch einen Zug fickt und mit mehr Männern schläft. Dass Joe am Ende die Süßigkeiten absahnen kann, verdankt sie ihrem letzten Opfer (Jean-Marc Barr), einem verheirateten Mann, der eigentlich auf dem Weg zu seiner Frau ist, um ein Kind zu zeugen und sich standhaft gegen einen Blow-Job zu weigern versucht - vergeblich! Als Joe später bei einem neuen Bürojob auf Jerôme (Shia LaBeouf) trifft, schließt sich für die junge Frau zunächst der Kreis, denn ihr neuer Vorgesetzter war es, der sie einst ruppig entjungferte. An einer Beziehung ist Joe im Gegensatz zu Jerôme nicht interessiert, sondern nur an hemmungslosem Sex-Konsum mit größtmöglicher Abwechslung.
Lars von Trier („Dancer In The Dark“, „Dogville“) bleibt sich treu und taucht auch in diesem Abschlussfilm seiner „Depressions-Trilogie“, die er mit „Antichrist“ und „Melancholia“ begonnen hat, tief ein in die seelischen Abgründe der Protagonistin und kombiniert dies mit einer ebenso eigenwilligen wie zwingenden Erzählweise. „Nymph()maniac“ ist in insgesamt acht Kapitel eingeteilt, wobei Teil 1 mitten in der fünften Episode mit einem Cliffhanger endet. Diese Grundstruktur behält von Trier übrigens auch in der längeren Festivalfassung bei, die sich vor allem durch stärker ausgedehnte Einzelszenen und etwas mehr explizite Details von der regulären Kino-Version unterscheidet. Hier wie dort fügen sich die Berichte der Hauptfigur mit ihren kapitelweise unterschiedlichen Schwerpunkten wie bei einem Puzzle allmählich zu dem Bild einer Frau voller Selbsthass, Schuld und Zweifel. Von Trier kehrt dabei immer wieder zu Charlotte Gainsbourg und Stellan Skarsgard („Der Medicus“, „Breaking The Waves“) in das karge Zimmer zurück, in dem sich die verwundete Joe erholt und Seligman von ihrem Leben erzählt. In diesen von der räumlichen Enge geprägten und meisterlich gespielten Szenen entstehen ein Gefühl tiefer, vorbehaltloser Intimität und eine große emotionale Spannung.
Die überragende Gainsbourg hatte auch schon in den ersten beiden Filmen der Trilogie tragende Parts inne und teilt sich die Hauptrolle hier mit der Newcomerin Stacy Martin, die Joe bis zum Alter von ungefähr 30 Jahren verkörpert. Der Übergang von einer Schauspielerin zur anderen gelingt nahtlos und das ist kein Wunder: Martin ähnelt äußerlich frappierend Gainsbourgs Mutter, der Sängerin und Schauspielerin Jane Birkin („Tod auf dem Nil“), in ihren jungen Jahren. Überdies ist das Model Martin auch ein beachtliches Schauspieltalent und bringt die inneren Widersprüche der Figur zwischen Unbedarftheit, Gleichgültigkeit und Zerbrechlichkeit ganz natürlich auf den Punkt. Außerdem hat die junge Britin nicht das geringste Problem damit, sehr ausführlich unbekleidet vor der Kamera zu stehen. Sie zeigt wie auch die anderen Schauspieler vollen körperlichen Einsatz; wenn es allerdings in den Sex-Szenen ernsthaft zur Sache geht, springen Porno-Darsteller als Doubles ein - was wiederum nichts daran ändert, dass die entsprechenden Szenen wie der gesamte Film wenig geeignet sind, die (Schau-)Lust des Publikums zu befriedigen.
Nacktheit ist in dieser Erzählung notwendig, aber sie ist unsexy, unromantisch und mit Schmerzen verbunden, genauso sind auch die sexuellen Handlungen ein logischer Bestandteil der Charakterzeichnung. Von Trier zuckt nicht vor Extremen zurück und blendet nichts aus – er bleibt selbst dann bei seinen Figuren, wenn andere aus kommerziellen Gründen oder aus reiner Pietät längst ausgestiegen wären. Bereits in der ersten Szene, in der die 50-jährige Joe zusammengetreten im kalten Dreck des Irgendwo aufgefunden wird, wird deutlich, welche Gangart von Trier anschlägt, als er mit Rammsteins rabiatem „Führe mich“ einen krassen Kontrast zwischen Bild und Ton schafft - was er später mit theaterhaften Dialogen weiterführt. Den dadurch erforderlichen Spagat zwischen künstlicher Sprechweise und völliger emotionaler Hingabe meistern nicht nur Gainsbourg, Skarsgard und Martin vorbildlich, sondern auch die übrigen Darsteller. So feiert der zwischenzeitlich in die Niederungen des B-Movies abgerutschte Christian Slater („Der Name der Rose“) mit seiner berührenden Darbietung als kranker Vater Joes ein gelungenes Comeback im Kunstfilm und auch Ex-Mainstream-Star Shia LaBeouf („Transformers“-Reihe) fügt sich ohne jede Extratour nahtlos ins Ensemble ein.
Wie so oft steckt bei von Trier vieles Wesentliche unter der mehr oder weniger skandalösen Oberfläche. Wenn er etwa die berühmte Fibonacci-Zahlenfolge über die Leinwand tanzen lässt, plötzlich ein ganzes Kapitel (Nummer 4 mit dem Titel „Delirium“) in Schwarz/Weiß gestaltet oder eine Penis-Parade zu eleganten Walzer-Klängen auffährt, dann sind das nicht nur inszenatorische Kabinettstücken. Er führt zugleich auch einen breitgefächerten geistesgeschichtlichen Diskurs, evoziert die Erzählwelten von Edgar Allan Poe ebenso wie die Kompositionskunst von Johann Sebastian Bach oder die mythischen Dimensionen von Wagners „Rheingold“. Dabei hat er stets eine Überraschung in der Hinterhand, selbst der hin und wieder eingeflochtene Humor kann unerwartet ins Schmerzhafte umschlagen. So etwa in der herzzerreißenden Episode (Kapitel 3) mit Uma Thurman als Mrs. H., die ihre Kinder in das Liebesnest führt, wo ihr Spießer-Mann und -Vater (Hugo Speer) sich mit seiner blutjungen Geliebten vergnügt. In diesem Kapitel erreicht der sonst erstaunlich ruhig erzählte „Nymph()maniac 1“ seinen hysterischen Siedepunkt und man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll.
Fazit: „Nymp()maniac 1“ ist weder der suggerierte Sexfilm, noch ein krachend-provokativer Kino-Paukenschlag, sondern eine radikal-kompromisslose, theaterhaft erzählte Charakterstudie und vor allem anderen ein echter Lars-von-Trier-Film.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2014. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.