In Hongkong arbeiten fast 300.000 Haushaltshilfen, viele von ihnen Ausländerinnen. Laut einer gesetzlichen Regelung müssen diese bei ihren Arbeitgebern wohnen, sind dadurch ganz nah dran an der Familie. Viele Dienstmädchen sind gleichzeitig auch die Kindermädchen und verbringen häufig mehr Zeit mit den Kindern als ihre Arbeitgeber, was die Bindung noch weiter verstärkt. Die Hongkonger Regisseurin Ann Hui erzählt in ihrem berührend-leichten Drama „Tao Jie - Ein einfaches Leben“ feinfühlig von einer solchen Angestellten, die über Jahrzehnte zu einem Teil der Familie wurde und im Alter nun selbst der Pflege bedarf.
Die in China geborene Ah Tao (Deanie Ip) kam als Kind zu Adoptiveltern. Diese gaben sie als Jugendliche zur Familie Leung in Hongkong, bei der sie über 60 Jahre als Haushaltshilfe und Dienstmädchen arbeitete und drei Generationen aufwachsen sah. Nun ist sie alt und krank und der einzige, noch in Hongkong lebende Spross der Familie ist Roger (Andy Lau). Er sucht für sie ein Altenheim und kümmert sich um sie. Nach Eingewöhnungsproblemen findet Ah Tao ihren Platz in dem Heim und lernt die Schrullen und Sorgen der anderen Bewohnerinnen und Bewohner kennen. Nach anfänglicher Besserung steht es immer schlechter um Ah Taos Gesundheit, und für Roger wird es immer selbstverständlicher, für sie da zu sein.
Kameramann Yu Lik Wai („A Touch Of Sin“) gelingt es, in wenigen Detailbildern der Speisezubereitung und Verrichtungen im Haushalt Ah Taos Charakter zu beschreiben: Sie ist eine sorgfältige, entschiedene und sehr bescheidene Person. Der Alltag mit Roger sieht für Zuschauer auf den ersten Blick nicht sehr liebevoll aus. Roger nimmt wie nebenbei die appetitlichen Speisen an, die Ah Tao bereitet, und begegnet ihr mit einer gewissen Ignoranz. Doch als sie plötzlich mit einem Schlaganfall im Krankenhaus liegt, ist es ganz klar, dass er für sie da ist - auch wenn ihre Wünsche und seine Angebote oft nicht zusammenfinden: Ein Handy will sie offenbar aus Bescheidenheit nicht annehmen und das Geld für eine Zahnprothese scheint ihr schlecht angelegt: „Ich brauch die nicht mehr lange“.
Im Alltag ist Roger viel beschäftigter Filmproduzent (was die nette Gelegenheit zu diversen Cameo-Auftritten, unter anderem von Filmemacher Tsui Hark und Produzent Raymond Chow, bietet). Um Ah Tao im Altenheim unterzubringen, macht er einen fragwürdigen Deal mit einem alten Kumpel, der das Heim führt und das „sehr lukrativ“ findet. Neben Rogers anfänglicher mangelnder Empathie sehen wir hier vermutlich auch ein Stück Hongkonger Gepflogenheiten (genauso wie später der brutale Rauswurf eines Mieters aus einer weiteren Wohnung der Familie Leung durch drei ziemlich finstere Typen).
Stück für Stück wird Roger klar, dass eine Haushaltshilfe mehr „Familie“ ist, als er bisher gemerkt hat. Über die Länge des Films hinweg zeigt sich auch bei ihm die tiefe Beziehung, die sie – sehr versteckt – bereits zu ihm hat: Beim gemeinsamen Kramen und Entrümpeln in der Wohnung finden sie ein Tuch, mit dem sie ihn als Baby durch die Gegend trug. Auch eine Filmzeitschrift ist in der Kiste. Die hatte sie ihm damals besorgt, weil er sie wegen eines elterlichen Verbots nicht kaufen durfte. Sie wirken wie Großmutter und Enkel, wie sie da durch alte Fotos und Erinnerungen stöbern.
Dabei ist ihr immer sehr bewusst, dass sie keine „echte“ Familie hat. Regisseurin Ann Hui zeigt so auch wie Ah Tao unter dem Getuschel der anderen Heimbewohner leidet. Mit Roger einigt sie sich darauf, dass er ihr „Patenkind“ ist (was „Infernal Affairs“-Star Andy Lau im echten Leben für Kollegin Deanie Ip übrigens tatsächlich ist). Ganz nebenbei gelingt es Ann Hui sehr liebevoll die Geschichte einiger anderer Heimbewohner zu erzählen. Was nicht nur ein Spektrum an Charakteren und Unterschieden im Altsein bietet, sondern auch bei einigen das „Versagen“ der klassischen Familie aufzeigt: Da liegt eine ältere Dame ständig im Streit mit ihrer Tochter, weil die Kinder die abgesprochene Finanzierung des Heimplatzes nicht aufbringen. Andere haben zwar Kinder, diese tauchen aber nie bei ihnen auf, nicht mal an Feiertagen.
Auch wenn vieles aus dem Hongkonger Alltag und seiner Kultur einem westlichen Zuschauer immer wieder fremd erscheinen mag, berührt „Tao Jie - Ein einfaches Leben“ zu jeder Zeit. Dies ist vor allem der Verdienst der mehrfach preisgekrönten Schauspiellegende Deanie Ip („Crying Heart“, „Action Hunter“), die als Ah Tao eine so faszinierende Leistung zeigt, dass man immerzu zärtlich besorgt zuschaut: Wie sich die alte Dame in dem provisorisch wirkenden Raum im Heim einrichtet und hart trainiert, um nach dem Schlaganfall wieder fit zu werden, ist einfach fantastisch.
Fazit: „Tao Jie - Ein einfaches Leben“ stellt die Frage nach Familie und wer dazu gehört, auf sehr bewegende Weise neu: Ein Mann gibt einer Haushaltshilfe im Alter zurück, was er über viele Jahre von ihr erhalten hat. Besonders überzeugen die Bedächtigkeit der Geschichte, die kleinen Geschehnisse am Rande und die Detailverliebtheit der Kamera.