Erfolgreiche Filme bekommen Sequels, Prequels und Spinn-Offs, sehr erfolgreiche sogar von allem ein bisschen. Für ein Mega-Franchise wie die X-Men-Reihe lässt man sich nach diesen Pflichtübungen dann sogar etwas neues einfallen, nämlich das "In-Between-Quel". Als Kategorie ungefähr so mutiert wie die Mehrheit seiner Hauptfiguren, aber auch ein interessanter Ansatz. Bryan Singer führt nach den ersten beiden Teilen der Mutantenabenteuer erstmals wieder Regie und schickt seinen All-Star-Cast in das angeblich größte Abenteuer der Serie.
Die Handlung beginnt in einer düsteren Zukunft. Mutanten und ihre Unterstützer werden gnadenlos von den Sentinels gejagt, die zwar offiziell Roboter sind, aber dennoch die wichtigsten Qualitäten von Mutanten in sich vereinen. Nur Zusammenhalt hat eine kleine Schar Überlebender bisher gerettet, doch der Widerstand bröckelt. Knapp vor der Auslöschung tun sich Obermutant Professor Charles Xavier (Patrick Stewart) und sein Kollege (und manchmal Konkurrent) Magneto (Ian McKellen) zusammen, um den unsterblichen Wolverine (Hugh Jackman) in der Zeit zurück und in den Körper seines jüngeren Ichs zu schicken. Die Mission: verhindern, dass die Sentinels jemals in Serienproduktion gehen. Das erweist sich allerdings als gar nicht so einfach, denn etliche der jüngeren Mutanten-Ichs (u.a. ein großartiger James McAvoy und ein grundsolider Michael Fassbender) verfolgen ihre ganz eigenen Ziele. Doch die Zeit lässt sich nicht aufhalten.
(Bildquelle: 20th Century Fox Home Entertainment)
Bei dem herrschenden Überangebot an Comicverfilmungen ist es ebenso schwer wie notwendig etwas neues zu liefern. Diesem Film gelingt es aber in weiten Teilen. Auch wenn die ersten Zukunftsvisionen trotz einer klug choreografierten Kampfszene zunächst in digitalen Schauwerten zu ersticken scheinen, überzeugen spätestens die in den siebziger Jahren spielenden Szenen durch ihre liebevolle Austattung und größtenteils "echten" Drehorte. Zudem stellt sich heraus, dass Wolverine der perfekte Zeitreisekandidat ist, da er nicht nur gegen jedwege Alterung immun ist (und damit praktischerweise immer von Hugh Jackman gespielt werden kann), sondern auch die manchmal fehlende Logik von Zeitreisen und ihren Auswirkungen so knochentrocken kommentiert, dass man manchen Kompromiss bereitwillig hinnimmt. Das Internet und nicht zuletzt die Comicvorlage bieten zwar reichlich Erklärungen für manche unglaubwürdig erscheinenden Details und fehlende Erklärungen, für Neueinsteiger kann es dennoch etwas schwierig werden, bei diesem Übermaß an Helden und Handlungssträngen den Überblick nicht zu verlieren. Man kann sich aber auch genüsslich an einem absolut hochkarätigen Cast erfreuen, dessen bekannteste Gesichter zwar teilweise "nur" in Nebenrollen auftauchen, aber dennoch sets zu überzeugen wissen. Auch Humor und Ironie kommen nicht zu kurz, vor allem in den Dialogen zwischen Wolverine und dem jungen Professor X, sowie in Gestalt des übernatürlich schnellen Mutanten Quicksilver. Ihm wird in diesem Film die vermutlich unterhaltsamste Zeitlupensequenz der Filmgeschichte gegönnt, aber das muss man selbst gesehen haben. In jedem Fall ein Fest für Fans der Reihe, die hier ein BestOf der beliebtesten X-Men vorgesetzt bekommen.
(Bildquelle: 20th Century Fox Home Entertainment)
Der vorliegende "Rogue Cut" ist übrigens eine erweiterte Fassung der Kinoversion, in dem ein ursprünglich zwar vorgesehener aber dann doch kurzfristig wieder herausgeschnittener zusätzlicher Handlungsstrang um die Mutantin Rogue enthalten ist. In der Logik der Handlung macht dieser aber durchaus Sinn, obwohl der Charakter selbst mit diesem Auftritt eigentlich immer noch zu kurz kommt. Noch mehr Erzählmaterial in zweieinhalb Stunden Film unterzubringen wäre aber vermutlich zuviel des Guten. Neulinge werden wie gesagt der mit Insidern aus den anderen Filmen und dem Helden-Universum gespickten Handlung vermutlich nur mit Mühe folgen können, da viele Grundlagen bereits in den letzten sechs (!) Filmen gelegt und erklärt wurden, während man sich hier auf das notwendigste beschränkt. Aber allein schon Wolverines lockere Sprüche, der von einer in den Siebzigern hochmodernen TV-Aufzeichnungsanlage nur mäßig zu beeindrucken ist und prompt nach dem Internet fragt, machen den Film sehenswert. Der übrige Cast (inklusive eines herrlich schlecht frisierten Peter "Tyrion" Dinklage als Erfinder Bolivar Trask) tut sein übriges. Um den Film wirklich würdigen zu können muss man ihn vermutlich mehrmals ansehen, beim ersten Durchlauf kann einen die Masse des Guten schier erschlagen. Dennoch ein heißer Tipp für alle, die schon lange auf Neuigkeiten von ihren Lieblingsmutanten hoffen. Und es hört nicht auf: Der nächste Teil der Reihe "X-Men Apocalypse" ist bereits in Arbeit und wird einmal mehr von Bryan Singer inszeniert. Manchmal setzt sich Qualität eben doch durch, denn bei weitem nicht alle der anderen Filme waren gleichermaßen beliebt.
(Bildquelle: 20th Century Fox Home Entertainment)
Die DVD-Ausgabe des Rogue Cut kommt erfreulich üppig daher. Auf zwei DVDs befinden sich sowohl die hier besprochene längere Fassung und die Kinoversion, sowie zahlreiche Extras. In mehreren thematisch gegliederten Featurettes werden Aspekte wie die Comicvorlage, die Austattung, der Cast und die Bildgestaltung erklärt, so dass kaum noch Wünsche offen bleiben. Vom Studio wurde im Vorfeld übrigens wiederholt dementiert, dass der Film wie Peter Jacksons Hobbit-Trilogie mit einer erhöhten Bildrate von 48 Bildern pro Sekunde gedreht und veröffentlicht wird, obwohl Regisseur Singer vorher wiederholt öffentlich mit diesem Verfahren geliebäugelt hatte. Beim Abspielen der DVD fällt jedoch auf, dass zumindest einige der Szenen eine höhere Bildrate aufzuweisen scheinen. Offiziell wurde der Film im Kino jedoch mit "gewöhnlichen" Rate von 24 Bildern pro Sekunde aufgeführt. Immerhin eins gilt als sicher: Einige Einstellungen mit dem superschnellen Quicksilver wurden mit 3600 Bilder pro Sekunde gedreht. Und ja, das gibt atemberaubende Zeitlupen ...
Darsteller: Hugh Jackman, James McAvoy, Michael Fassbender, Patrick Stewart, Ian McKellen, Jennifer Lawrence, Peter Dinklage, Halle Berry, Nicholas Hoult, Ellen Page, Omar Sy uvm.
Regie: Bryan Singer
Jahr: 2015
Label: 20th Century Fox Home Entertainment
Länge: 144 min (Kinofassung: 132 min)
FSK: ab 12 Jahren