Eine schöne Frau aus dem 19. Jahrhundert versetzt in Volker Schlöndorffs „Diplomatie“ viele Jahrzehnte später, genauer im August 1944, General Dietrich von Choltitz ins Erstaunen. Hitlers Kommandeur in Paris logiert in einer Luxussuite des Hotels Meurice, schwer bewacht von seinen Leuten. Trotzdem steht plötzlich der schwedische Konsul Raoul Nordling in seinem Arbeitszimmer. Wie er hierhergekommen sei, fragt der verblüffte General. Durch den Geheimgang, den einst Napoleon III. angelegt habe, um unerkannt vom Louvre zu seiner Geliebten zu gelangen, antwortet der Konsul. Es ist das Wunder von Volker Schlöndorffs Kammerspiel, dass man an diese Erklärung glaubt – und auch daran, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs eigentlich einen anderen Verlauf hätte nehmen müssen. Die totale Zerstörung der französischen Hauptstadt erscheint in dem starken und spannenden Film nämlich unabwendbar, obwohl wir es aus der Geschichte ja besser wissen. So diese Kenntnis der Realität außer Kraft zu setzen, ist schon einmal ein großer Verdienst.
Dass Hitler den Befehl gab, Paris unter allen Umständen zu halten oder aber in ein Trümmerfeld zu verwandeln, gilt als gesichert. In „Diplomatie“ entscheidet sich die Zukunft der französischen Hauptstadt in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1944. Während die Alliierten nach ihrer Landung in der Normandie auf dem Vormarsch sind und sich die Résistance Straßenkämpfe mit deutschen Soldaten liefert, bereitet Dietrich von Choltitz (Niels Arestrup), Kommandeur von Groß-Paris, alles für eine Sprengung der Stadt vor. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen würden in den Tod gerissen. Von diesem Vorhaben will den General der schwedische Konsul Raoul Nordling (André Dussollier) abbringen, ruft den enormen kulturellen Wert von Notre-Dame, Louvre und Sacre-Cœur ebenso ins Bewusstsein wie die Verluste an Menschenleben. Choltitz verweist auf seinen soldatischen Eid zum Gehorsam. Ein Gesprächs- und Psychoduell entspinnt sich, in dem bald das Überleben von Chotlitz´ von den Nazis bedrohter Familie gegen das Schicksal von Paris und Nachkriegsdeutschlands steht. Aber nützt es überhaupt, Chotlitz zum Nachgeben zu überreden? Sind seine Leute nicht längst entschlossen, ohnehin die Stadt zu sprengen…
Raoul Nordling und Dietrich von Choltitz sind historische Persönlichkeiten. Sie verhandelten über den Austausch von gefangenen deutschen Soldaten bzw. Résistance-Kämpfern und brachten sogar für die Zeit vom 20. bis 24. August 1944 eine Art Waffenstillstand zustande. Aber die in Schlöndorffs Film dargestellte Unterredung in der Nacht zum 25. August fand nie statt. Diese Änderung der Geschichte für ein fiktives Kinokammerspiel schadet nicht – ganz im Gegenteil: Historische Unkorrektheiten sind hier die Voraussetzung, um im Spiegel eines menschlichen Dilemmas den Geist eines bedrohten Ortes erscheinen zu lassen, der nicht nur die Kriegsepoche, sondern auch noch die Gegenwart prägt: Paris.
Die Seine-Metropole erzählt das Geschehen in „Diplomatie“ mit. Zu Recht bezeichnet Regisseur Volker Schlöndorff Paris als die dritte Figur neben Choltitz und Nordling. Die französische Stadt spielt ihre Rolle subtil als kulturellen Mythos, obwohl sie eigentlich fast gar nicht zu sehen ist. Nordling aus einem Geheimgang eintreten zu lassen – das genügt völlig als Hommage an die vielen literarischen und cineastischen Phantastereien und surrealen Geschichten, die aus Paris kommen und von dort aus die Welt bezauberten und heute noch bezaubern: von Eugène Sues „Die Geheimnisse von Paris“ über Victors Hugos „Les Misérables“ bis Gaston Leroux´ „Das Phantom der Oper“, von Louis Feuillades „Fantômas“-Filmreihe bis zu Luc Bessons Actionfilmen „Subway“ und „Nikita“ oder Chris Nahons „Kiss of the Dragon“. Mit dem zentralen Konflikt erinnert „Diplomatie“ daneben auch an die existenzialistischen Dramen und Romane von Albert Camus und Jean-Paul Sartre.
Die meisten dieser Einfälle in „Diplomatie“ stammen bereits aus dem gleichnamigen Theaterstück von Cyril Gely. Aber Schlöndorff, der zusammen mit Gely das Drehbuch verfasst hat, macht daraus einen gelungenen Film. Wenn die Kamera Soldaten und einen Zivilisten durch die umkämpfte Stadt zu den Sprengmeistern begleitet, sickert jene unbeherrschbare Ereignishaftigkeit ein, die nicht nur den Prozess des Filmens charakterisiert, sondern auch die Versuche Choltitz´ und Nordlings durchkreuzen kann, ein Stück Weltgeschichte zu steuern. Niels Arestrup („Unsere Kinder“) verkörpert dabei Widerpart Choltitz als im Kern ehrenhaften preußischen Militär, obwohl dessen Verbrechen an der Ostfront im Film nicht unerwähnt bleiben. André Dussollier („Die Schöne und das Biest“), dessen Nordling immerhin mit gezinkten Karten sein Ziel erreichen will, tritt dagegen etwas zu harmlos auf. Aber trotz kleiner Schwächen: Dass Volker Schlöndorff, seit „Die Blechtrommel“ berühmt, nach viel fader Ernsthaftigkeit noch einmal etwas so Fesselndes wie „Diplomatie“ gelingt, hätte wohl niemand gedacht.
Fazit: „Diplomatie“ bietet spannendes und beklemmendes Kino und besticht zusätzlich als Hommage an Paris: Im Moment ihres drohenden Verlustes wird dabei bewusst, was die Menschheit der Seine-Metropole verdankt.