Wenn der einstige Weltstar Helmut Berger demnächst ins RTL-Dschungelcamp einzieht, dann will er mit den anderen Kandidaten der populären TV-Show ausschließlich Italienisch oder Französisch sprechen. Mit solch verschroben-elitärem Verhalten würde der exzentrische Schauspieler sich ganz unabhängig von den zu erwartenden Boulevard-Schlagzeilen durchaus treu bleiben und unter Filmkennern Erinnerungen an eine seiner berühmtesten Rollen wecken: Ludwig II. Unter der Regie von Luchino Visconti verkörperte Berger 1972 den von den Bayern liebevoll Kini genannten Regenten als dekadent-versponnenen Außenseiter und fügte den vielen Legenden um den „Märchenkönig" ein weiteres faszinierendes Kapitel hinzu. Der 1886 unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommene Wittelsbacher beflügelt bis heute die Phantasien (es sollen über 4.000 Bücher über ihn geschrieben worden sein), wobei die übersteigerten und stilisierten Sichtweisen die harten historischen Fakten meistens in den Hintergrund rücken lassen. Das Regieduo Peter Sehr und Marie Noëlle („Kaspar Hauser", „Love the Hard Way") tritt nun mit seinem episch angelegten biografischen Historienfilm „Ludwig II." an, den Menschen hinter der Legende zu seinem Recht kommen zu lassen. Das gelingt vor allem dank exzellenter Darsteller, opulenter Originalschauplätze und minutiöser Detailarbeit über weite Strecken sehr gut.
1864. Der bayerische Kronprinz Ludwig (Sabin Tambrea) interessiert sich nicht für die Regierungsgeschäfte, aber als König Max II. (Axel Milberg) überraschend stirbt, muss sich der 18-jährige Idealist der Herausforderung stellen. Als Ludwig II. will er Bayern zu einer Hochburg von Kunst und Musik machen und lässt den von ihm hochverehrten Komponisten Richard Wagner (Edgar Selge) nach München kommen. Als die Spannungen zwischen Österreich und Preußen steigen, scheitert der Bayern-König mit seinen Friedensplänen und muss schließlich die Mobilmachung an der Seite Österreichs befehlen. Auch nach Bayerns Niederlage verläuft die weitere politische Entwicklung nicht nach den Vorstellungen Ludwigs und er muss bei der Bildung des Deutschen Reiches seine Ansprüche auf die Kaiserkrone aufgeben. Dazu kommen private Rückschläge wie die in seinen eigenen Augen ungehörige intime Annäherung an seinen Stallmeister Richard Hornig (Friedrich Mücke), die aufgelöste Verlobung mit seiner Cousine Sophie (Paula Beer) und das immer stärker belastete Verhältnis zu Wagner. Schließlich muss Ludwig seinen Bruder Otto (Tom Schilling) 1872 nach einem Zusammenbruch in die Nervenheilanstalt einweisen lassen. 14 Jahre später lebt der König (jetzt: Sebastian Schipper) zurückgezogen in seiner eigenen Welt in seinen neu errichteten Schlössern Linderhof, Herrenchiemsee und Neuschwanstein. Es kommt zum Konflikt mit dem Minister Lutz (Justus von Dohnanyi), der Ludwig entmündigen lassen will...
„Majestät soll ein ewig Rätsel bleiben" – diesen Ausspruch Ludwigs, den sie in ihrem Film mehrmals aufgreifen, haben Peter Sehr und Marie Noëlle nicht etwa zum Anlass genommen, den zahlreichen Spekulationen über Leben und Sterben ihres Protagonisten weitere abwegige Zuspitzungen hinzuzufügen. Hier ist dieser zentrale Satz vielmehr in erster Linie Ausdruck von Ludwigs Ringen um die eigene Rolle. Der junge König (ver)zweifelt an sich selbst, an seinen Wünschen und Neigungen genauso wie an seinen Aufgaben. Wenn er vor dem Spiegel seine Thronrede probt, ist das nicht nur ein ebenso naheliegendes wie einleuchtendes Bild für den Zwiespalt in ihm, sondern vor allem auch eine darstellerische Glanzleistung von Hauptdarsteller Sabin Tambrea. Der Theaterdarsteller, der zuvor keine große Filmerfahrung besaß, beeindruckt mit einem feinnervigen Porträt eines durchaus nicht weltfremden Idealisten: Seine innere Unruhe steht in ständigem Kampf mit seinen Überzeugungen, Glück ist für ihn nur ihn sublimierter Form erfahrbar. In der „Lohengrin"-Musik kann er sich verlieren, körperliche Intimität – ob mit Hornig oder mit Sophie – verbietet er sich dagegen. Diese Schock-Momente haben bei Tambrea indes weder etwas Krankhaftes noch den Anstrich edler Entsagung: Majestät ist sich selbst ein Rätsel.
Sabin Tambrea muss sich nicht hinter berühmten Vorgängern wie Helmut Berger oder O.W. Fischer, der 1955 Helmut Käutners „Ludwig II." spielte, verstecken, aber er ist nicht der einzige Kini-Darsteller in diesem Film. Peter Sehr und Marie Noëlle machen etwa 30 Minuten vor dem Ende einen großen Zeitsprung in das letzte Lebensjahr des Königs und in diesen Szenen wird der nun 40-Jährige von Sebastian Schipper („Drei", „Absolute Giganten") gespielt. Ob der Darstellerwechsel angesichts der 14 Jahre Zeitunterschied zwingend nötig ist, mag man unterschiedlich sehen, nachvollziehbar ist er allemal - und Schipper macht seine Sache als immer eigenwilligerer Eremit, der sich nicht mehr ins Gesicht blicken lässt, auch sehr gut. Aber der langgezogene Epilog fällt erzählerisch dennoch gegenüber dem Rest des Films zurück und wirkt ein wenig wie eine Pflichtetappe – das innere Drama wird dort zu einem bloßen Kostüm- und Ausstattungsfilm. Der hat allerdings auch seine Vorzüge und die Originalschauplätze sind den Schlenker schon allein wert.
Neben den tollen Frisuren, den prächtigen Kostümen und beeindruckenden Ausstattungsstücken wie einer luxuriösen goldenen Kutsche, sind die historischen Bauwerke und Innenräume von München bis Versailles besonders eindrucksvoll. In Neuschwanstein mussten die Filmemacher lange um die Drehgenehmigung kämpfen (dort hatte man mit Viscontis Team schlechte Erfahrungen gemacht), aber die nachts außerhalb der Öffnungszeiten der Touristenattraktion entstandenen Aufnahmen geben einen hervorragenden Eindruck von Ludwigs Vorstellungen. Kameramann Christian Berger („Das weiße Band") lässt die verschnörkelte Pracht der Schauplätze für sich sprechen und setzt auf Natürlichkeit. Das passt zum Anspruch der Regisseure auf einen möglichst authentischen Film, hier wird nicht auf Schauwerte verzichtet, aber die Opulenz ist nie Selbstzweck. Etwas anders ist das bei dem vom herausragenden Tambrea angeführten und mit bekannten Namen gespickten Ensemble. Kaum hat man sich gefragt „Ist das nicht Uwe Ochsenknecht?", ist nichts mehr von ihm zu sehen (ja, es ist Ochsenknecht, der Prinz Luitpold spielt).
Trotz des gelegentlichen Eindrucks einer Starparade, sind die meisten Rollen sehr gut besetzt. Edgar Selge („Poll", „Polizeiruf 110") gibt als pragmatischer Richard Wagner eine wunderbar originelle Darstellung und verdient sich das Prädikat „picobello", Justus von Dohnanyi („Männerherzen") glänzt als sympathischer Kammerdiener, der zum Minister aufsteigt. Tom Schillings („Oh Boy") und Hannah Herzsprungs („Vier Minuten", „Hell") Darbietungen als Ludwigs Bruder Otto und österreichische Kaiserin Sisi sind dagegen deutlich stärker Geschmackssache. Das liegt nicht daran, dass sie gegen berühmte Vorgänger in ihren Rollen (Klaus Kinski und Romy Schneider) anspielen, sondern vielmehr wirkt ihr Stil allzu modern – andererseits ist es gerade bei Sisi und Otto gar nicht so unpassend, wenn sie zuweilen als Fremdkörper erscheinen, denn die Figuren haben ja tatsächlich eine Aura des Andersseins, des Besonderen an sich und sind gerade deshalb für Ludwig besonders wichtige Bezugspersonen. Es sind letztlich auch diese kleinen ungewöhnlichen Akzente, die den neuen „Ludwig II." lohnenswert machen – dieses Prestige-Projekt ist spürbar Herzenssache.
Fazit: „Ludwig II." überzeugt mit prächtigen Schauwerten, eindrucksvoller Schauspielkunst und einem erfrischend ungekünstelten Ansatz.