Cannes ist ein Ort, an dem große Filmemacher geboren werden. Und wer es mit seinem Erstlingswerk in den Wettbewerb des wichtigsten Filmfestivals der Welt schafft, der muss bei der Auswahlkommission gewaltig Eindruck hinterlassen haben. Das ist der Australierin Julia Leigh ganz offensichtlich gelungen. Ihr Debütfilm „Sleeping Beauty" ist ein eiskalt komponiertes und unglaublich faszinierendes Arthouse-Erotik-Drama, das dermaßen atemberaubend inszeniert ist, dass man sich fragt, was Frau Leigh eigentlich all die Jahre zuvor getrieben hat? Nun, sie hat zum Beispiel zwei erfolgreiche Romane („The Hunter", „Disquiet") veröffentlicht. Der Sprung von der Literatur zum Film gelingt der Neu-Regisseurin mit traumwandlerischer Sicherheit: „Sleeping Beauty" ist außergewöhnlich, mysteriös und konsequent düster.
Die Studentin Lucy (Emily Browning) finanziert sich ihr Auskommen mit allerlei Nebenjobs. Sie arbeitet als Hilfskraft in einem Restaurant und in einem Büro, ist aber auch bereit für Sex gegen Bares. Als sie sich auf eine Anzeige in einer Studenten-Zeitung meldet, verändert sich ihr Leben radikal. Beim Vorstellungsgespräch verlangt ihr neuer Boss Clara (Rachael Blake) absolute Diskretion als oberste Maxime – eine Vernachlässigung dieser Pflicht hätte für Lucy, die sich fortan Sara nennen soll, schmerzhafte Konsequenzen. Sie fungiert als leicht geschürzte Servierkraft in einem exquisit-dekadenten Altherren-Club, das ist allerdings nur eine Art Probe. Denn zugleich wird ohne Lucys Wissen ihre Eignung für einen noch viel besser bezahlten Job getestet, den Clara so beschreibt: „Du wirst einschlafen und wieder aufwachen. Und du wirst dir vorkommen, als hätten die Stunden zuvor niemals existiert". Lucy willigt ein und wird zu „Sleeping Beauty": Bewusstlos wird sie in einer sogenannten „Dornröschen"-Kammer drapiert, wo die alten Herren ihre Sexphantasien an ihr ausleben dürfen – einzige Einschränkung: „keine Penetration". „Deine Vagina ist ein Tempel", so Claras Credo. Aber ohne Folgen bleiben die Einsätze in der Kammer natürlich nicht...
2008 schaffte es Julia Leighs erster Drehbuchentwurf auf die sogenannte „Black List" – Franklin Leonards vielbeachtete Aufstellung der besten unverfilmten Scripts des jeweiligen Jahres. Mit der Unterstützung von Regisseurin Jane Campion, die mit „Das Piano" als erste und bisher einzige Frau die Goldene Palme von Cannes gewann und das Projekt anschob, gelang es Leigh, „Sleeping Beauty" realisiert zu bekommen und beschert uns einen Film, der in keine der gewöhnlichen dramaturgischen Schablonen passt. Zunächst einmal ist das Drama ein sich in feinen Nuancen fast unmerklich entwickelndes Porträt einer passiven jungen Frau, die mit ihrer fatalistischen Gleichgültigkeit für die Rolle als betörend schönes Objekt der Begierde prädestiniert ist. Zu Beginn lässt sie schon einmal eine Münze darüber entscheiden, ob sie mit einem Unbekannten, der sie in einer Nobelbar aufreißen will, schläft oder nicht. Das ist im Vergleich zu ihrem Einsatz als „Sleeping Beauty" noch harmlos, hier wird die Passivität zu einem zwang- und wahnhaften Zustand. Angefixt durch das Geld, das sie mit dem neuen Job verdient und das sie aus der häuslichen Einöde in ein Luxus-Apartment befördert, will Lucy immer mehr, obwohl sie weiß, dass dieses Unternehmen kaum gut enden kann.
Inszenatorisch liefert Julia Leigh Außergewöhnliches ab. Ihr Film ist kühl bis ins Mark, in jeder Szene, jeder Einstellung, jeder Geste – was durch das minimalistische Sound-Design von Sam Petty („Somersault") perfekt ergänzt wird. Die Bilder, die Kameramann Geoffrey Simpson („Shine - Der Weg ins Licht") auf die Leinwand bringt, sind oft wie erotische Gemälde komponiert und in der Stimmung mit den besten Momenten von Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut" vergleichbar. Bei alldem ist die äußere Monotonie der Erzählung bisweilen geradezu beängstigend. Während Lucy sich scheinbar ihrem Schicksal ergibt, enthüllt immer neue Facetten ihrer Protagonistin, verzichtet dabei aber konsequent auf oberflächliche Erklärungen. Auch die wenigen Nebenfiguren wie Clara oder der „Birdman" (Ewen Leslie), Lucys schräger, platonischer Freund, geben Rätsel auf, die nicht unbedingt gelöst werden wollen. Denn in „Sleeping Beauty" geht es nicht um eine psychologische Ausdeutung sämtlicher Figuren und Motive, vielmehr steuert Julia Leigh ihren Film konsequent ins Nirgendwo. Nicht zuletzt mit einigen Anleihen beim Märchen - neben den offensichtlichen „Dornröschen"-Verweisen verteilt Lucy etwa rote Beeren auf dem Rücksitz einer Luxuskarosse – entrückt die Regisseurin das Werk in eine andere Welt jenseits der normalen Sehgewohnheiten.
Emily Browning, die sich mit Zack Snyders „Sucker Punch" weltweite Aufmerksamkeit erspielt hat, ist als Lucy/Sara die perfekte Besetzung. Sie setzt ihren makellosen Körper ohne Scheu bis hin zur Full Frontal Nudity ein, vor allem aber besticht sie mit ihrem fein nuancierten Porträt einer mysteriösen Seele. Ihr hochgewagter Auftritt sollte sich für Browning im Endeffekt auszahlen, weil sie völlig neue Aspekte ihres Könnens offenbart. „Sleeping Beauty" ist trotz Brownings umwerfender Darbietung allerdings kein erotisches Feuerwerk, denn Regisseurin Julia Leigh setzt im Gegenteil auf einen anti-erotischen Effekt, indem sie die sexuellen Phantasien in ihrer eiskalten Inszenierung dekonstruiert.
Fazit: Julia Leigh legt mit ihrem „Sleeping Beauty" das aufregendste Debüt der jüngeren Zeit hin und schuf ein atmosphärisches Meisterwerk, das auf faszinierende Weise verstört - ein schockierend schöner Film und eine echte Cannes-Entdeckung: düster, komplex, mutig und unwiderstehlich.