Fast wäre Eran Kolirins Debütfilm „Die Band von nebenan" von 2007 für Israel ins Rennen um den Oscar für den Besten nicht-englischsprachigen Film gegangen. Für seine Erzählung über ein ägyptisches Polizeiorchester, das in einem israelischen Wüstenkaff strandet, erntete Kolirin zwar euphorischen Applaus von der heimischen Kritik, zu Hollywoods größter Show wurde der Regisseur dann aber doch nicht eingeladen: „Die Band von nebenan" hatte mehr als 50 Prozent englischsprachige Dialoge und entsprach so nicht den Kriterien für die Kategorie des sogenannten Auslandsfilms. Jetzt kommt das 2011 in Venedig uraufgeführte Zweitwerk des vielversprechenden Jungfilmers ins Kino. Mit „The Exchange" fragt Kolirin danach, ob und wie es möglich ist, den eigenen Alltag aus gänzlich neuen Perspektiven zu betrachten – und was mit unseren Beziehungen und mit uns selbst geschieht, wenn wir unser Leben jenseits sozialer Routinen neu auslegen. Ein spannendes Thema, herausfordernd wertfrei dargestellt und doch problematisch: Der Protagonist, der diesen Wandel durchläuft, ist so passiv, neutral und damit auch bald asozial, dass man leicht jeden Bezug zu ihm verliert – ganz wie es auch seiner Frau im Film ergeht.
Der Physiker Oded (Rotem Keinan) verlässt jeden Tag um dieselbe Zeit seine Wohnung, nimmt denselben Bus mit demselben Busfahrer und steigt an derselben Station aus, um seinen Arbeitsplatz an der Universität aufzusuchen. Am Abend läuft diese Routine rückwärts und gipfelt im Sex mit seiner Frau Tami (Sharon Tal), die ihre Tage hauptsächlich in der gemeinsamen Wohnung verbringt. Doch dann ändert sich alles: Als Oded einen vergessenen Ordner aus der Wohnung holt, erscheinen ihm plötzlich nicht nur die eigenen vier Wände, sondern gleich das ganze Mietshaus unheimlich. Neue Blickwinkel, das heimliche Beobachten seiner Frau und der Nachbarn, all das fasziniert ihn. Statt zur Arbeit zurückzukehren, gibt sich Oded zunehmend obsessiv dem Perspektivwechsel hin – und findet in Yoav (Dov Navon) gar einen Gleichgesinnten. Seine Frau jedoch wird ihm immer fremder...
Die Routine seines Protagonisten etabliert Kolirin elegant mit wenigen, präzisen Einstellungen, die ein ganz normales, dabei ganz und gar mechanisches Leben zeigen. Ebenso eindrucksvoll gelingt es ihm, Odeds neuen Blick auf seine Wohnung für das Publikum erfahrbar zu machen. Das menschenleere Heim, die ruhigen Flure – all das wirkt so friedlich wie künstlich und steril. Odeds Obsession wird dabei geschickt visualisiert, indem die Kamera einfach den Blickwinkel des Protagonisten einnimmt und mit ihm gemeinsam eine plötzlich fremdgewordene Landschaft erkundet. Kleine Gesten im Umgang mit seiner Frau verdeutlichen nebenbei den erotischen Anteil seiner neuen Leidenschaft. Oded genießt wie auch Yoav die Macht, die dem heimlichen Beobachter gegeben ist, ebenso wie den Reiz, etwas vollkommen Unerwartetes und auch Unangemessenes zu tun, ohne selbst erblickt zu werden.
Hauptdarsteller Rotem Kainan hat dabei eine gewissermaßen undankbare Rolle zu spielen: Sein unbewegter, fast teilnahmsloser Gesichtsausdruck passt zu seiner Figur, die ihre Alltagsroutine akzeptiert und die Suche nach Abwechslung längst aufgegeben hat. Doch dabei bleibt es auch. Nur selten deutet sich unter Kainans Bart etwa mal ein verschmitztes Lächeln an. So aber ist sein Innenleben kaum greifbar; seine Intentionen und insbesondere die Distanzierung von seiner Frau bleiben vage. Schlußendlich ist jeder von jedem entfremdet: Oded von sich, die Ehefrau von Oded, Oded von der Ehefrau und das Publikum von Oded. Über weite Strecken ist „The Exchange" so ereignislos wie die zuvor aufgebrochene Routine. Man muss schon genau zwischen den Zeilen lesen, um einer so wertneutral in Szene gesetzten und so passiven Hauptfigur noch folgen zu können.
Fazit: Mit „The Exchange" findet Eran Koliri einnehmende Bilder für seine Themen Perspektivwechsel, Voyeurismus und Entfremdung. Der Protagonist bleibt dabei aber zu unnahbar und der Film zu abstrakt, um eine ergiebige Auseinandersetzung für ein breiteres Publikum zu eröffnen.