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    Les Misérables
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Les Misérables
    Von Andreas Staben

    Victor Hugos monumentaler Roman „Die Elenden" (im Original „Les Misérables") von 1862 gilt als eines der berühmtesten Bücher in französischer Sprache, aber vor allem im anglo-amerikanischen Raum ist die Geschichte um den Ex-Sträfling Jean Valjean längst in der abgespeckten Musical-Version von Claude-Michel Schönberg, Alain Boublil und Herbert Kretzmer bekannter, die 1985 ihre Premiere feierte. So verwundert es nicht, dass der Produzent des Musicals schon seit den 90er Jahren versucht, seinen Broadway- und West-End-Hit auch auf die Kino-Leinwände zu bringen. Erst fast zwei Jahrzehnte später konnte das Projekt in die Tat umgesetzt werden und nach zahlreichen Verfilmungen von Hugos Buch kommt nun das Musical „Les Misérables" in epischer Länge und in Starbesetzung in die Lichtspielhäuser. Der (fast) durchgängig gesungene Film von Oscar-Preisträger Tom Hooper („The King's Speech") dürfte vor allem die Fans der Bühnenversion zufriedenstellen, die so gut wie ungekürzt bleibt. Den zu einem großen Teil hervorragenden Darsteller- und Gesangsleistungen, die für einige beeindruckende Höhepunkte sorgen, stehen allerdings deutliche inszenatorische und dramaturgische Schwächen gegenüber.

    Toulon, 1815. Der Sträfling Jean Valjean (Hugh Jackman) wird nach 19 Jahren Haft und Zwangsarbeit entlassen, nachdem er einst ein Stück Brot gestohlen hatte. Inspektor Javert (Russell Crowe) ist überzeugt, dass sich Valjean nicht bessern kann und will ihn beim ersten Verstoß gegen die strengen Bewährungsauflagen wieder einsperren. Montreuil, 1823. Valjean hat sich eine neue Existenz aufgebaut und ist unter dem Namen Monsieur Madeleine zum Bürgermeister und Fabrikbesitzer geworden. Als Fantine (Anne Hathaway), eine seiner Arbeiterinnen, vom Vorarbeiter entlassen wird, gerät sie in eine Spirale aus Not und Elend. Valjean verspricht ihr am Totenbett, sich um ihre kleine Tochter Cosette (Isabelle Allen) zu kümmern. Inzwischen hat Javert die wahre Identität Madeleines entdeckt und der Enttarnte muss mit dem Waisenmädchen aus der Stadt fliehen. Paris, 1832. In der Hauptstadt herrscht Revolutionsstimmung. Zu den Aufständischen gehört Marius (Eddie Redmayne), der eines Tages in einer Menschenmenge eine junge Frau erblickt, in die er sich auf den ersten Blick verliebt. Es ist Cosette (Amanda Seyfried), die mit ihrem angeblichen Vater Valjean nun in Paris lebt. Mit der Hilfe von Eponine (Samantha Barks), die ihrerseits in ihn verliebt ist, gelingt es Marius Cosette näherzukommen. Bald eskaliert jedoch die Lage: Javert taucht auf, die Studenten gehen auf die Barrikaden, das Pulverfass Paris droht zu explodieren...

    Victor Hugos Roman hat rund 1500 Seiten und ist unter anderem soziale und historische Chronik, minutiöse Milieustudie, philosophische Abhandlung, epische Charakterstudie und leidenschaftliche Liebesgeschichte. Im Musical ist der Stoff natürlich extrem verdichtet, aber was auf der Bühne noch funktionieren mag, erscheint in Tom Hoopers Film als strukturelle Schwäche, denn der Regisseur versäumt es, dem ununterbrochenen Fluss der Ereignisse klare Konturen zu geben. Mehr als einmal bleiben Zusammenhänge und Motivationen unterbelichtet, obwohl sich alle 49 Gesangsnummern von der Bühne mit nur marginalen Kürzungen auch in der Kinoversion wiederfinden (und noch eine 50., Valjeans „Suddenly", dazu komponiert wurde). So fällt es zu Beginn extrem schwer, Javerts Hass auf Valjean nachzuvollziehen, die angeblich so große Liebe zwischen Cosette und Marius kommt buchstäblich aus dem Nichts und die historischen Hintergründe bleiben mehr als vage. Hinweise und Erklärungen werden, wenn es sie denn gibt, oft in wenigen Takten Musik versteckt, so dass „Les Misérables" rein erzählerisch für mit der Geschichte nicht vertraute Zuschauer extrem schwer fassbar bleibt. Fans der Bühnen-Show hingegen bekommen mit dem Gastauftritt des Original-Valjean Colm Wilkinson als Bischof von Digne noch ein besonderes Schmankerl geboten.

    Perfekte Ausstattung und Kostüme, eine sorgfältig ausgewählte Besetzung, zeitlose Themen und einige Ohrwürmer reichen noch nicht für einen gelungenen Film, wenn der Regisseur nicht ganz auf der Höhe ist. Oft sind es einzig Musik und Darsteller, die einen Eindruck vom emotionalen Gehalt einer Szene vermitteln, während Tom Hooper scheinbar wahllos die Perspektive wechselt wie beim Liebestrio von Marius, Cosette und Eponine („A Heart Full Of Love") oder gar nicht erst den richtigen Ton trifft wie bei den Nummern der Thénardiers („Master of the House"). Was für komische Abwechslung sorgen soll, wirkt in seinem verwackelt-uneleganten Aktionismus nur aufgesetzt – Helena Bonham Carter („Fight Club") und Sacha Baron Cohen („Borat", „Hugo Cabret"), die schon in Tim Burtons „Sweeney Todd" einen gemeinsamen Musical-Auftritt hatten, bleiben entsprechend Fremdkörper. Auch große Ensemblenummern wie „One Day More" und „Do You Hear the People Sing?" wirken extrem unorganisch, haben aber dennoch einen oft unwiderstehlichen Schwung und das gemeinsame Finale ist dann vollends mitreißend – ein fröhlicher Theateraufruhr, zu dem auch Tote wiederauferstehen.

    Während der wiederholte Einsatz des Randlinien verzerrenden Fischaugen-Objektivs für Weitwinkelaufnahmen von Gebäuden und Innenräumen allmählich wie eine etwas aufdringliche Marotte des Regisseurs wirkt, macht sich Hoopers ungewöhnliche Entscheidung, den Gesang live beim Drehen aufzunehmen (sonst werden die Lieder in der Regel separat im Tonstudio eingespielt und die Sänger/Schauspieler agieren dann lippensynchron zu der Aufzeichnung), bezahlt. Nun ist die Methode längst nicht so innovativ wie behauptet wurde (schon in den 1930er Jahren war sie Standard), aber durch sie bekommen die Darbietungen tatsächlich oft zusätzliche Ausdruckskraft. Was hier an musikalischer Perfektion verloren gehen mag, wird durch zusätzliche schauspielerische Nuancen mehr als ausgeglichen. Das zeigt sich insbesondere bei den beiden männlichen Hauptdarstellern Hugh Jackman („X-Men", „The Prestige") und Russell Crowe („Insider", „A Beautiful Mind"). Der musicalerfahrene „Wolverine"-Darsteller lässt die Anstrengung, die der Kampf Valjeans gegen Resignation und Rückschläge kostet, hör- und sichtbar werden und der im Vergleich zu seinen Mitstreitern weniger stimmgewaltige Ex-„Gladiator" macht aus der scheinbaren Not geradezu eine Tugend. Mit seinem durchaus wohlklingenden Bariton verleiht Crowe Javert bei aller Starrköpfigkeit einen Hauch Traurigkeit und sein abschließendes gesungenes Selbstgespräch wird zu einem tragischen Manifest bestürzender Einsicht.

    Javerts düstere Abschiedsszene gehört auch visuell zu den Höhepunkten des Films, die Einsamkeit des Fanatikers, dessen Weltbild in Stücke gebrochen ist, wird durch das gigantische Dekor und den schwarzen Himmel wirkungsvoll unterstrichen. Neben diesem Prunkstück sind jene Szenen am überzeugendsten, in denen der Regisseur seinen Darstellern das Feld überlässt. Schon seit den ersten Trailern wurde Anne Hathaway („The Dark Knight Rises") als heiße Oscar-Anwärterin gehandelt und wer ihre in einer einzigen durchgehenden Großaufnahme gefilmte Darbietung von „I Dreamed a Dream" nun im Ganzen sieht und hört, versteht warum. Der Klagegesang der todgeweihten Fantine ist von herzzerreißender Eindringlichkeit und wird zum regelrechten „Showstopper". Vergleichbare Intensität erreicht nur noch Eddie Redmayne („Die Säulen der Erde", „My Week with Marilyn") als Marius mit seinem ähnlich traurigen und ähnlich gefilmten „Empty Chairs at Empty Tables". Glänzend schlägt sich auch Film-Neuling Samantha Barks, die ihre Bühnenrolle als Eponine beibehält. Sie ist gesanglich eine Klasse für sich und sticht Amanda Seyfrieds („Mamma Mia!") Cosette deutlich aus, wobei diese beileibe nicht enttäuscht. So ist „Les Misérables" letztlich vor allem eine goldene Gelegenheit für seine Schauspieler, die sich hier zugleich als Sänger beweisen können.

    Fazit: Tom Hoopers Non-Stop-Musical „Les Misérables" ist eine gesanglich und darstellerisch mehr als beachtliche Verfilmung des Bühnenerfolgs. Der große produktionstechnische Aufwand kann dabei indes nicht immer über erzählerische und inszenatorische Schwächen hinwegtäuschen.

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